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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band.

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gewissen Jugendlichkeit zu bewahren wußte, erst in der späteren Zeit begegnet
sind, werden ein wohlthuendes Bild von ihn: behalten haben. "Hundertmal
habe ich in meinem Leben viel virtuoser und brillanter Klavier spielen hören,
als Otto spielte, hundertmal viel lebhafter und leidenschaftlicher den Taktstvck
schwingen sehen, als er ihn schwang, mit so gewinnender Einfachheit und
Natürlichkeit aber nie wieder. Alle Eitelkeit, alle Prätension und Asfektaiion,
kurz alles unangenehm Künstlerhafte lag ihm fern. Seiner Erfolge frenie er
sich in wahrhaft kindlicher Weise. Sein Zimmer war mit zahllosen Ehren-
mitgliedsdiplvmen, die von Mäuuergesangvereineu zum Theil aus weitester
Ferne, aus Amerika und Australien, ihm zugesendet worden waren, und mit
bebänderten Lorbeerkränzen, die er vou allerhand Sängerfesten heimgebracht,
und die er alle, wie die Diplome, hatte unter Glas und Rahmen bringen
lassen, über und über bedeckt, so daß kaum noch ein Stück Tapete sichtbar blieb.
Da war es dann eine Lust für ihn, uns von einem zum andern zu führen
und von schönen vergangenen Tagen zu erzählen. Und wie gerne flüchtete er
sich in diese Erinnerungen! War ihm doch in seinem häuslichen Leben "ur
allzuviel Kummer bereitet. Drei Frauen sind im Tode ihm vorangegangen,
ebenso alle seine Kinder, darunter ein poetisch begabter Sohn, Ernst Julius
(geb. 11. Juli 1825, f 5. Nov. 1849 in Pirna), der Dichter der "Burschett-
und Gesellenfahrten." Die treue Anhänglichkeit, die alle dem "Kantor" be¬
wahrten, die je im Leben ihm näher getreten, sie zeigte sich am deutlichsten
bei der rührenden Abschiedsfeier, die ihm beim Rücktritt von feinem Amte be¬
reitet wurde. Es bestand damals die Absicht, unter seinen früheren Schülern
-- und zu ihnen gehört kein geringerer als Albert Dietrich -- einen Fonds
zu sammeln, der ihm bei seinem Rücktritt überreicht, und dessen Zinsen als
"Ottostiftuug" alljährlich an eiuen musikalisch befähigten, zur Universität ab¬
gehenden Schüler des Kreuzchores vergeben werden sollten. Leider kam der
schöne Gedanke nicht zur Ausführung, weil es, wenn man die Oeffentlichkeit um-
geben wollte, unausführbar erschien, eine hinreichende Anzahl seiner überallhin
verstreuten Schüler zusammenzubringen. Vielleicht geben diese Zeilen die An¬
regung dazu, daß nach dem Hingange des verehrten Mannes das Versäumte
noch nachgeholt werde. Die deutscheu Münnergesangvereine aber werden es
sich hoffentlich nicht nehmen lassen, an der Stätte seiner langjährigen Wirk¬
samkeit für ein würdiges Grabdenkmal oder sonst ein äußeres Erinnerungs¬
zeichen zu sorgen.

Was ist seiner Zeit alles zu Ehren Karl Wilhelm's geschrieben, gesungen
und gesammelt worden! Aber vergessen wir über der "Wacht am Rhein" no'h
das "treue deutsche Herz" nicht -- die beiden Lieder deuten ja gleichsam zwei


gewissen Jugendlichkeit zu bewahren wußte, erst in der späteren Zeit begegnet
sind, werden ein wohlthuendes Bild von ihn: behalten haben. "Hundertmal
habe ich in meinem Leben viel virtuoser und brillanter Klavier spielen hören,
als Otto spielte, hundertmal viel lebhafter und leidenschaftlicher den Taktstvck
schwingen sehen, als er ihn schwang, mit so gewinnender Einfachheit und
Natürlichkeit aber nie wieder. Alle Eitelkeit, alle Prätension und Asfektaiion,
kurz alles unangenehm Künstlerhafte lag ihm fern. Seiner Erfolge frenie er
sich in wahrhaft kindlicher Weise. Sein Zimmer war mit zahllosen Ehren-
mitgliedsdiplvmen, die von Mäuuergesangvereineu zum Theil aus weitester
Ferne, aus Amerika und Australien, ihm zugesendet worden waren, und mit
bebänderten Lorbeerkränzen, die er vou allerhand Sängerfesten heimgebracht,
und die er alle, wie die Diplome, hatte unter Glas und Rahmen bringen
lassen, über und über bedeckt, so daß kaum noch ein Stück Tapete sichtbar blieb.
Da war es dann eine Lust für ihn, uns von einem zum andern zu führen
und von schönen vergangenen Tagen zu erzählen. Und wie gerne flüchtete er
sich in diese Erinnerungen! War ihm doch in seinem häuslichen Leben »ur
allzuviel Kummer bereitet. Drei Frauen sind im Tode ihm vorangegangen,
ebenso alle seine Kinder, darunter ein poetisch begabter Sohn, Ernst Julius
(geb. 11. Juli 1825, f 5. Nov. 1849 in Pirna), der Dichter der „Burschett-
und Gesellenfahrten." Die treue Anhänglichkeit, die alle dem „Kantor" be¬
wahrten, die je im Leben ihm näher getreten, sie zeigte sich am deutlichsten
bei der rührenden Abschiedsfeier, die ihm beim Rücktritt von feinem Amte be¬
reitet wurde. Es bestand damals die Absicht, unter seinen früheren Schülern
— und zu ihnen gehört kein geringerer als Albert Dietrich — einen Fonds
zu sammeln, der ihm bei seinem Rücktritt überreicht, und dessen Zinsen als
„Ottostiftuug" alljährlich an eiuen musikalisch befähigten, zur Universität ab¬
gehenden Schüler des Kreuzchores vergeben werden sollten. Leider kam der
schöne Gedanke nicht zur Ausführung, weil es, wenn man die Oeffentlichkeit um-
geben wollte, unausführbar erschien, eine hinreichende Anzahl seiner überallhin
verstreuten Schüler zusammenzubringen. Vielleicht geben diese Zeilen die An¬
regung dazu, daß nach dem Hingange des verehrten Mannes das Versäumte
noch nachgeholt werde. Die deutscheu Münnergesangvereine aber werden es
sich hoffentlich nicht nehmen lassen, an der Stätte seiner langjährigen Wirk¬
samkeit für ein würdiges Grabdenkmal oder sonst ein äußeres Erinnerungs¬
zeichen zu sorgen.

Was ist seiner Zeit alles zu Ehren Karl Wilhelm's geschrieben, gesungen
und gesammelt worden! Aber vergessen wir über der „Wacht am Rhein" no'h
das „treue deutsche Herz" nicht — die beiden Lieder deuten ja gleichsam zwei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157642/82>, abgerufen am 17.06.2024.