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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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sich über fast alle Disziplinen erstreckt und in Betreff einiger derselben ziemlich
reich ausgebildet ist. Es ist das Hereinfallen des Schattens der alten Welt
in die Gegenwart, der Nachklang der heidnischen Vergangenheit mit ihren Vor¬
stellungen von den Menschen und der Welt, von der Natur und dem Uebersinn-
lichen, der in tieferen, von der Sonne der modernen Bildung weniger beleuch¬
teten Regionen wie ein bald drolliger, bald unheimlicher Widerhall, von Jahr¬
zehnt zu Jahrzehnt schwächer werdend, aber nie ganz ersterbend forttöut, und
der von denen, welche in den höheren und helleren Regionen leben -- in den
meisten, aber uicht in allen Beziehungen mit Recht -- geringschätzig als Aber¬
glaube oder Köhlerglaube bezeichnet wird. Die Leser haben gefunden, das;
man in gewissem Sinne von einer eigenen Botanik, einer eigenen Zoologie, einer
besonderen Agronomie, Astronomie, Anthropologie und Psychologie des Volkes
sprechen kann, denen sich selbst eine eigene Theologie und noch manches Andere an¬
reihen ließe. Ganz besonders reich und bunt aber ist der Komplex von
Meinungen, Bräuchen, Sprüchen und Rezepten, der die Verhütung von Krank¬
heiten und die Wiederherstellung der Gesundheit des Menschen und der ihm
nahestehenden Thiere durch Mittel, welche die Aerzte nicht anerkennen, zum
Gegenstande hat, und von diesem Gebiete des Aberglaubens will ich in Fol¬
gendem ein Bild geben.

Die Volksmedizin kennt nur wenige Krankheiten, .z. B. Fieber, die Aus¬
zehrung, die Rose, die Gicht und das Reißen, die Epilepsie (in Sachsen "das
böse Wesen"), Warzen, Kopf und Zahnschmerzen, den "Dampf" (Asthma),
Wunden und Blutungen, und sie ist, soweit sie nicht auf die Kenntniß gewisser
einfacher, theilweise wohl in der Urzeit den Thieren abgesehener Hausmittel
hinausläuft oder in grobem oder feinerem Schwindel besteht, durchweg theils
Abwehr von Zaubergewalt, theils Zauberwerk, welches den Zweck hat, bereits
Bezanberte von dem sie bedrückenden Uebel zu befreien; denn mehr oder minder
bewußt empfindet das Volk fast in jeder Krankheit die Wirkung eines Zaubers.

Betrachte" wir zunächst die Vorschriften für die defensive Seite der Volks¬
medizin, so zerfallen sie in zwei Klassen: in solche, die etwas verbieten, und
in solche, die etwas anbefehlen, und letztere wieder theilen sich in Gebote, die
sich auf eine einmal vorzunehmende Handlung, und solche, die sich aus ein
bleibendes Schutzmittel, z. B. ein Amulet beziehen.

Verbote dieser Art sind u. A. folgende: Man esse in den zwölf Nächten
vom Weihnachtsabend bis zum Dreikönigstage keine Hülsenfrüchte, weil man
sonst krank wird. Man enthalte sich nach dem Eintritt der Hundstage der
Erdbeeren, da man andernfalls Beulen bekommt. Man unterlasse am ersten
Ostertage den Genuß von Fleisch, sonst wird man mit Zahnschmerz bestraft.
Am Fustnachtsdienstag darf man in einigen Gegenden gar nichts essen, wenn


sich über fast alle Disziplinen erstreckt und in Betreff einiger derselben ziemlich
reich ausgebildet ist. Es ist das Hereinfallen des Schattens der alten Welt
in die Gegenwart, der Nachklang der heidnischen Vergangenheit mit ihren Vor¬
stellungen von den Menschen und der Welt, von der Natur und dem Uebersinn-
lichen, der in tieferen, von der Sonne der modernen Bildung weniger beleuch¬
teten Regionen wie ein bald drolliger, bald unheimlicher Widerhall, von Jahr¬
zehnt zu Jahrzehnt schwächer werdend, aber nie ganz ersterbend forttöut, und
der von denen, welche in den höheren und helleren Regionen leben — in den
meisten, aber uicht in allen Beziehungen mit Recht — geringschätzig als Aber¬
glaube oder Köhlerglaube bezeichnet wird. Die Leser haben gefunden, das;
man in gewissem Sinne von einer eigenen Botanik, einer eigenen Zoologie, einer
besonderen Agronomie, Astronomie, Anthropologie und Psychologie des Volkes
sprechen kann, denen sich selbst eine eigene Theologie und noch manches Andere an¬
reihen ließe. Ganz besonders reich und bunt aber ist der Komplex von
Meinungen, Bräuchen, Sprüchen und Rezepten, der die Verhütung von Krank¬
heiten und die Wiederherstellung der Gesundheit des Menschen und der ihm
nahestehenden Thiere durch Mittel, welche die Aerzte nicht anerkennen, zum
Gegenstande hat, und von diesem Gebiete des Aberglaubens will ich in Fol¬
gendem ein Bild geben.

Die Volksmedizin kennt nur wenige Krankheiten, .z. B. Fieber, die Aus¬
zehrung, die Rose, die Gicht und das Reißen, die Epilepsie (in Sachsen „das
böse Wesen"), Warzen, Kopf und Zahnschmerzen, den „Dampf" (Asthma),
Wunden und Blutungen, und sie ist, soweit sie nicht auf die Kenntniß gewisser
einfacher, theilweise wohl in der Urzeit den Thieren abgesehener Hausmittel
hinausläuft oder in grobem oder feinerem Schwindel besteht, durchweg theils
Abwehr von Zaubergewalt, theils Zauberwerk, welches den Zweck hat, bereits
Bezanberte von dem sie bedrückenden Uebel zu befreien; denn mehr oder minder
bewußt empfindet das Volk fast in jeder Krankheit die Wirkung eines Zaubers.

Betrachte» wir zunächst die Vorschriften für die defensive Seite der Volks¬
medizin, so zerfallen sie in zwei Klassen: in solche, die etwas verbieten, und
in solche, die etwas anbefehlen, und letztere wieder theilen sich in Gebote, die
sich auf eine einmal vorzunehmende Handlung, und solche, die sich aus ein
bleibendes Schutzmittel, z. B. ein Amulet beziehen.

Verbote dieser Art sind u. A. folgende: Man esse in den zwölf Nächten
vom Weihnachtsabend bis zum Dreikönigstage keine Hülsenfrüchte, weil man
sonst krank wird. Man enthalte sich nach dem Eintritt der Hundstage der
Erdbeeren, da man andernfalls Beulen bekommt. Man unterlasse am ersten
Ostertage den Genuß von Fleisch, sonst wird man mit Zahnschmerz bestraft.
Am Fustnachtsdienstag darf man in einigen Gegenden gar nichts essen, wenn


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[0140] sich über fast alle Disziplinen erstreckt und in Betreff einiger derselben ziemlich reich ausgebildet ist. Es ist das Hereinfallen des Schattens der alten Welt in die Gegenwart, der Nachklang der heidnischen Vergangenheit mit ihren Vor¬ stellungen von den Menschen und der Welt, von der Natur und dem Uebersinn- lichen, der in tieferen, von der Sonne der modernen Bildung weniger beleuch¬ teten Regionen wie ein bald drolliger, bald unheimlicher Widerhall, von Jahr¬ zehnt zu Jahrzehnt schwächer werdend, aber nie ganz ersterbend forttöut, und der von denen, welche in den höheren und helleren Regionen leben — in den meisten, aber uicht in allen Beziehungen mit Recht — geringschätzig als Aber¬ glaube oder Köhlerglaube bezeichnet wird. Die Leser haben gefunden, das; man in gewissem Sinne von einer eigenen Botanik, einer eigenen Zoologie, einer besonderen Agronomie, Astronomie, Anthropologie und Psychologie des Volkes sprechen kann, denen sich selbst eine eigene Theologie und noch manches Andere an¬ reihen ließe. Ganz besonders reich und bunt aber ist der Komplex von Meinungen, Bräuchen, Sprüchen und Rezepten, der die Verhütung von Krank¬ heiten und die Wiederherstellung der Gesundheit des Menschen und der ihm nahestehenden Thiere durch Mittel, welche die Aerzte nicht anerkennen, zum Gegenstande hat, und von diesem Gebiete des Aberglaubens will ich in Fol¬ gendem ein Bild geben. Die Volksmedizin kennt nur wenige Krankheiten, .z. B. Fieber, die Aus¬ zehrung, die Rose, die Gicht und das Reißen, die Epilepsie (in Sachsen „das böse Wesen"), Warzen, Kopf und Zahnschmerzen, den „Dampf" (Asthma), Wunden und Blutungen, und sie ist, soweit sie nicht auf die Kenntniß gewisser einfacher, theilweise wohl in der Urzeit den Thieren abgesehener Hausmittel hinausläuft oder in grobem oder feinerem Schwindel besteht, durchweg theils Abwehr von Zaubergewalt, theils Zauberwerk, welches den Zweck hat, bereits Bezanberte von dem sie bedrückenden Uebel zu befreien; denn mehr oder minder bewußt empfindet das Volk fast in jeder Krankheit die Wirkung eines Zaubers. Betrachte» wir zunächst die Vorschriften für die defensive Seite der Volks¬ medizin, so zerfallen sie in zwei Klassen: in solche, die etwas verbieten, und in solche, die etwas anbefehlen, und letztere wieder theilen sich in Gebote, die sich auf eine einmal vorzunehmende Handlung, und solche, die sich aus ein bleibendes Schutzmittel, z. B. ein Amulet beziehen. Verbote dieser Art sind u. A. folgende: Man esse in den zwölf Nächten vom Weihnachtsabend bis zum Dreikönigstage keine Hülsenfrüchte, weil man sonst krank wird. Man enthalte sich nach dem Eintritt der Hundstage der Erdbeeren, da man andernfalls Beulen bekommt. Man unterlasse am ersten Ostertage den Genuß von Fleisch, sonst wird man mit Zahnschmerz bestraft. Am Fustnachtsdienstag darf man in einigen Gegenden gar nichts essen, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/140>, abgerufen am 18.05.2024.