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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band.

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Lardenberg's Denkwürdigkeiten.

Die Katastrophe des preußischen Staates im Herbst des Jahres 1806
und die sie begleitenden Umstände und Ereignisse, welche innerlich und äußerlich
die Zersetzung und Auslösung des Staates herbeizuführen schienen, haben damals
eine Fluth von Schriften ins Leben gerufen, welche das Ungeheuere und
Ueberraschende des Unglücksschlages erklären nud begreiflich machen wollten.
Bald wurden die einzelne": leitenden Persönlichkeiten des letzten Jahrzehntes
als die schuldigen Urheber für das über Preußen hereingebrochene Unheil
verantwortlich gemacht. Bald wurde aus den Einrichtungen der Verwaltung
und des Heerwesens die Erklärung des zunächst unerklärlich scheinenden Ereig¬
nisses gesucht, in einer Weise, die das bisher der Bewunderung Europas darge¬
botene Musterbild des preußischen Staates aller seiner Vorzüge und glänzenden
Eigenschaften entkleidete. Bald wurden nebeneinander die beiden Gedankenreihen
vorgetragen. Durch diese ganze Literatur zieht sich ein System von Anklagen
und Beschuldigungen gegen die Staatsmänner hindurch, welche den preußischen
' Staat im Jahre 1806 geleitet, und ebenso gegen die Generale, die das preußische
Heer im Kriege 1806 und 1807 befehligt hatten.

Ganz sicher ist ein beträchtlicher Theil der damals laut gewordenen Anklagen
und Vorwürfe wohl begründet und wird von jedem ehrlichen und gewissenhaften
Geschichtschreiber jener Tage wiederholt werden müssen. Ebenso sicher ist es
aber, daß manches ihn ihnen übertrieben und entstellt, manches geradezu erfunden
und erlogen ist. Ein gerechtes Urtheil über alle die hierdurch angeregten
Fragen zu spreche,: wird erst möglich, wenn jeder Fall im einzelnen eingehend
geprüft und abgewogen worden ist. Man muß es bedauern, daß diese gleich-



*) Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg. Herausgegeben von
Leopold von Ranke. 4 Bände. Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot 1^77.
("0 Mark.)
Grenzboten IV. 1377. 1
Lardenberg's Denkwürdigkeiten.

Die Katastrophe des preußischen Staates im Herbst des Jahres 1806
und die sie begleitenden Umstände und Ereignisse, welche innerlich und äußerlich
die Zersetzung und Auslösung des Staates herbeizuführen schienen, haben damals
eine Fluth von Schriften ins Leben gerufen, welche das Ungeheuere und
Ueberraschende des Unglücksschlages erklären nud begreiflich machen wollten.
Bald wurden die einzelne«: leitenden Persönlichkeiten des letzten Jahrzehntes
als die schuldigen Urheber für das über Preußen hereingebrochene Unheil
verantwortlich gemacht. Bald wurde aus den Einrichtungen der Verwaltung
und des Heerwesens die Erklärung des zunächst unerklärlich scheinenden Ereig¬
nisses gesucht, in einer Weise, die das bisher der Bewunderung Europas darge¬
botene Musterbild des preußischen Staates aller seiner Vorzüge und glänzenden
Eigenschaften entkleidete. Bald wurden nebeneinander die beiden Gedankenreihen
vorgetragen. Durch diese ganze Literatur zieht sich ein System von Anklagen
und Beschuldigungen gegen die Staatsmänner hindurch, welche den preußischen
' Staat im Jahre 1806 geleitet, und ebenso gegen die Generale, die das preußische
Heer im Kriege 1806 und 1807 befehligt hatten.

Ganz sicher ist ein beträchtlicher Theil der damals laut gewordenen Anklagen
und Vorwürfe wohl begründet und wird von jedem ehrlichen und gewissenhaften
Geschichtschreiber jener Tage wiederholt werden müssen. Ebenso sicher ist es
aber, daß manches ihn ihnen übertrieben und entstellt, manches geradezu erfunden
und erlogen ist. Ein gerechtes Urtheil über alle die hierdurch angeregten
Fragen zu spreche,: wird erst möglich, wenn jeder Fall im einzelnen eingehend
geprüft und abgewogen worden ist. Man muß es bedauern, daß diese gleich-



*) Denkwürdigkeiten des Staatskanzlers Fürsten von Hardenberg. Herausgegeben von
Leopold von Ranke. 4 Bände. Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot 1^77.
(«0 Mark.)
Grenzboten IV. 1377. 1
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157645/5>, abgerufen am 16.06.2024.