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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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die Dichter der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und zuletzt die Nibe¬
lungen und die deutsche Poesie seit den Anfängen der romantischen Schule Be¬
sprechung erfahren. Der folgende Abschnitt behandelt die Poesie des Nibelun¬
genliedes, die Grundstimmung, die Kunstmittel und die historische Entwickelung
des Gedichts, sowie seine epische Form. Das letzte und ausführlichste Kapitel
endlich läßt die neueren Nibelungendichtungen und deren Vorläufer Hans
Sachs, de la Motte-Fouque und Zacharias Werner Revue Passiren. Zunächst
werden hier die Dichter in Betracht genommen, die wie Raupach und Hebbel
Dramen, welche die ganze Nibelungensage umfassen, geliefert haben, dann
solche, von denen wir Kriemhild-, Brunhild- oder Rüdiger-Dramen besitzen,
hierauf die epischen oder lyrisch-epischen Nibelungendichtnngen und schließlich
Richard Wagner's Leistungen auf diesem Gebiet. Der Verfasser zeigt sich als
wohlunterrichtet über seinen Gegenstand, er bekundet guten Geschmack, und er
versteht, was er weiß und will, in angemessener Weise zu sagen. Das Ergeb¬
niß, zu dem der Verfasser gelangt, entspricht ganz unsrer Ansicht von der
Sache. Wir unterschreiben es vollständig, wenn er sagt:

"Die Umschau unter den neueren Nibeluugendichtungeu hat uns die Ge¬
wißheit nicht gewinnen lassen, daß ein neues würdiges Gewand für die alte
Sage schon gefunden sei. Dennoch erkennen wir ans das Bereitwilligste an,
daß die neuere Poesie mit großem Eifer und vielem Glück es sich hat angelegen
sein lassen, den spröden Stoff zu durchdringen. Diese Erfolge lassen auch die
Hoffnung als begründet erscheinen, daß eine poetische Form wird gefunden
werden, welche dem ehrwürdigen Stoffe Eingang in die weitesten Kreise des
nationalen Lebens eröffnen wird. Aber Eins wird als Grundforderung uner¬
läßlich bleiben. Jeder Versuch einer Umdichtnng darf, ganz abgesehen von
der gewählten Form, nur die Absicht haben, für den Stoff, die Fabel, die
Charaktere des alten Gedichts die Sympathie seiner Zeit zu gewinnen und
die also eroberte verständnißsuchende Wärme und Geneigtheit auf das alte
Lied zurückzuführen. Er soll sich subordiniren und die ehrwürdige, durch die
Zeit geheiligte Größe der altnationalen Erbschaft zu restituiren suchen. So¬
bald er sich selbst an die Stelle des alten Epos zu setzen sucht, um dasselbe
zu verdrängen, und nun für sich das Interesse beansprucht, das jenem in erster
Linie zukommt, so verfällt er der Kritik, welche berechtigt ist, schonungslos die
Parallele zu ziehen" ... Nur in einem Punkte ließe sich ein Vergleich zwischen
den Nibelungen und Homer mit Aussicht auf Förderung der Sache durch¬
führen, nämlich in dem der historischen Weiterbildung der Sage. Zur Zeit,
als die griechischen Dramatiker den alten Sagenkreis in poetische Behand¬
lung nahmen, stand Homer in dem Gedächtniß und dem Herzen des griechi¬
schen Volkes unerschütterlich fest. Die Dichter konnten darum leicht und un-


die Dichter der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und zuletzt die Nibe¬
lungen und die deutsche Poesie seit den Anfängen der romantischen Schule Be¬
sprechung erfahren. Der folgende Abschnitt behandelt die Poesie des Nibelun¬
genliedes, die Grundstimmung, die Kunstmittel und die historische Entwickelung
des Gedichts, sowie seine epische Form. Das letzte und ausführlichste Kapitel
endlich läßt die neueren Nibelungendichtungen und deren Vorläufer Hans
Sachs, de la Motte-Fouque und Zacharias Werner Revue Passiren. Zunächst
werden hier die Dichter in Betracht genommen, die wie Raupach und Hebbel
Dramen, welche die ganze Nibelungensage umfassen, geliefert haben, dann
solche, von denen wir Kriemhild-, Brunhild- oder Rüdiger-Dramen besitzen,
hierauf die epischen oder lyrisch-epischen Nibelungendichtnngen und schließlich
Richard Wagner's Leistungen auf diesem Gebiet. Der Verfasser zeigt sich als
wohlunterrichtet über seinen Gegenstand, er bekundet guten Geschmack, und er
versteht, was er weiß und will, in angemessener Weise zu sagen. Das Ergeb¬
niß, zu dem der Verfasser gelangt, entspricht ganz unsrer Ansicht von der
Sache. Wir unterschreiben es vollständig, wenn er sagt:

„Die Umschau unter den neueren Nibeluugendichtungeu hat uns die Ge¬
wißheit nicht gewinnen lassen, daß ein neues würdiges Gewand für die alte
Sage schon gefunden sei. Dennoch erkennen wir ans das Bereitwilligste an,
daß die neuere Poesie mit großem Eifer und vielem Glück es sich hat angelegen
sein lassen, den spröden Stoff zu durchdringen. Diese Erfolge lassen auch die
Hoffnung als begründet erscheinen, daß eine poetische Form wird gefunden
werden, welche dem ehrwürdigen Stoffe Eingang in die weitesten Kreise des
nationalen Lebens eröffnen wird. Aber Eins wird als Grundforderung uner¬
läßlich bleiben. Jeder Versuch einer Umdichtnng darf, ganz abgesehen von
der gewählten Form, nur die Absicht haben, für den Stoff, die Fabel, die
Charaktere des alten Gedichts die Sympathie seiner Zeit zu gewinnen und
die also eroberte verständnißsuchende Wärme und Geneigtheit auf das alte
Lied zurückzuführen. Er soll sich subordiniren und die ehrwürdige, durch die
Zeit geheiligte Größe der altnationalen Erbschaft zu restituiren suchen. So¬
bald er sich selbst an die Stelle des alten Epos zu setzen sucht, um dasselbe
zu verdrängen, und nun für sich das Interesse beansprucht, das jenem in erster
Linie zukommt, so verfällt er der Kritik, welche berechtigt ist, schonungslos die
Parallele zu ziehen" ... Nur in einem Punkte ließe sich ein Vergleich zwischen
den Nibelungen und Homer mit Aussicht auf Förderung der Sache durch¬
führen, nämlich in dem der historischen Weiterbildung der Sage. Zur Zeit,
als die griechischen Dramatiker den alten Sagenkreis in poetische Behand¬
lung nahmen, stand Homer in dem Gedächtniß und dem Herzen des griechi¬
schen Volkes unerschütterlich fest. Die Dichter konnten darum leicht und un-


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[0046] die Dichter der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts und zuletzt die Nibe¬ lungen und die deutsche Poesie seit den Anfängen der romantischen Schule Be¬ sprechung erfahren. Der folgende Abschnitt behandelt die Poesie des Nibelun¬ genliedes, die Grundstimmung, die Kunstmittel und die historische Entwickelung des Gedichts, sowie seine epische Form. Das letzte und ausführlichste Kapitel endlich läßt die neueren Nibelungendichtungen und deren Vorläufer Hans Sachs, de la Motte-Fouque und Zacharias Werner Revue Passiren. Zunächst werden hier die Dichter in Betracht genommen, die wie Raupach und Hebbel Dramen, welche die ganze Nibelungensage umfassen, geliefert haben, dann solche, von denen wir Kriemhild-, Brunhild- oder Rüdiger-Dramen besitzen, hierauf die epischen oder lyrisch-epischen Nibelungendichtnngen und schließlich Richard Wagner's Leistungen auf diesem Gebiet. Der Verfasser zeigt sich als wohlunterrichtet über seinen Gegenstand, er bekundet guten Geschmack, und er versteht, was er weiß und will, in angemessener Weise zu sagen. Das Ergeb¬ niß, zu dem der Verfasser gelangt, entspricht ganz unsrer Ansicht von der Sache. Wir unterschreiben es vollständig, wenn er sagt: „Die Umschau unter den neueren Nibeluugendichtungeu hat uns die Ge¬ wißheit nicht gewinnen lassen, daß ein neues würdiges Gewand für die alte Sage schon gefunden sei. Dennoch erkennen wir ans das Bereitwilligste an, daß die neuere Poesie mit großem Eifer und vielem Glück es sich hat angelegen sein lassen, den spröden Stoff zu durchdringen. Diese Erfolge lassen auch die Hoffnung als begründet erscheinen, daß eine poetische Form wird gefunden werden, welche dem ehrwürdigen Stoffe Eingang in die weitesten Kreise des nationalen Lebens eröffnen wird. Aber Eins wird als Grundforderung uner¬ läßlich bleiben. Jeder Versuch einer Umdichtnng darf, ganz abgesehen von der gewählten Form, nur die Absicht haben, für den Stoff, die Fabel, die Charaktere des alten Gedichts die Sympathie seiner Zeit zu gewinnen und die also eroberte verständnißsuchende Wärme und Geneigtheit auf das alte Lied zurückzuführen. Er soll sich subordiniren und die ehrwürdige, durch die Zeit geheiligte Größe der altnationalen Erbschaft zu restituiren suchen. So¬ bald er sich selbst an die Stelle des alten Epos zu setzen sucht, um dasselbe zu verdrängen, und nun für sich das Interesse beansprucht, das jenem in erster Linie zukommt, so verfällt er der Kritik, welche berechtigt ist, schonungslos die Parallele zu ziehen" ... Nur in einem Punkte ließe sich ein Vergleich zwischen den Nibelungen und Homer mit Aussicht auf Förderung der Sache durch¬ führen, nämlich in dem der historischen Weiterbildung der Sage. Zur Zeit, als die griechischen Dramatiker den alten Sagenkreis in poetische Behand¬ lung nahmen, stand Homer in dem Gedächtniß und dem Herzen des griechi¬ schen Volkes unerschütterlich fest. Die Dichter konnten darum leicht und un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/46>, abgerufen am 20.05.2024.