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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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land gewöhnlich fünf Jahre. In Amerika erfordert dieses Studium nominell
drei, in Wirklichkeit aber nur zwei Jahre; denn der Studirende muß das dritte
Jahr daran wenden, daß er bei einem in gutem Rufe stehenden Arzte als
Assistent praktizirt. Dann muß er mit einem Zeugniß des letzteren den Be¬
weis führen, daß er dieser Formalität genügt hat. Außerdem ist das Jahr
auf den Winterkursns von vier Monaten beschränkt. Während der Dauer
seiner Studien wird der Studirende keiner Prüfung unterzogen. Um den
Doktortitel zu erlangen, muß er dem Dekan der Fakultät eine eigenhändig ge¬
schriebene Abhandlung überreichen. Ist diese zufriedenstellend ausgefallen, so
wird der Verfasser derselben von jedem Professor der Fakultät einzeln geprüft,
doch geschieht dies nicht öffentlich, sondern wird unter vier Augen in der
Wohnung des Examinators vorgenommen. Sind alle, die sich gemeldet haben,
ans diese Art geprüft, so versammelt sich die Fakultät und verleiht denen, welche
weniger als drei schwarze Kugeln bekommen haben, das Doktordiplom, wobei
zu bemerken ist, daß nur selten Kandidaten durchfallen.

Das Angeführte und dnrch Aeußerungen amerikanischer Fachmänner Er¬
härtete legt Schäden blos, die ihren Grund in der Organisation des Unter¬
richtswesens und dessen Leitung haben. Ihnen reiht sich aber noch ein anderes
Moment an: die verhältnißmäßig geringe Benutzung der Schule. Die Zahl
der in die öffentlichen Schulen Eingeschriebenen beträgt nur etwa 62 Prozent
der Schulbevölkerung und ungefähr 83 Prozent der auf die Altersklassen vom
sechsten bis zum sechzehnten Jahre entfallenden Individuell. Allem der wirk¬
liche Schulbesuch, d. h. der durchschnittliche Tagesbesnch macht seinerseits wie¬
der nicht viel mehr als 30 Prozent der ersteren und 40 Prozent der letzteren ans.
Da die Ziffern des Privatnnterrichts im Ganzen spärlich sind, drängt sich uns
aus den obigen Daten die unerfreuliche Folgerung ans, daß mehr als die
Hälfte der Individuen aus den hier am meisten in Betracht kommenden Alters¬
klassen eines systematischen Schulunterrichtes entbehrt. Diese Erscheinung über¬
rascht aber um so mehr, als bis jetzt in elf Staaten: New-Iork, New-Jersey,
Rhode Island, Connecticut, Massachusetts, New-Hampshire, Vermont, Michi-
gan, Texas, Nevada und Californien der Schulzwang eingeführt worden ist.
Man wird gut thun, anzunehmen, daß er dort nur auf dem Papiere steht.
Die Nachfrage uach Kinderarbeit ist groß, und ökonomische Gründe, gepaart
mit Uuterschützung des Werthes der Bildung erzeugen die in obiger Darstel¬
lung nachgewiesenen und anch in den genannten elf Staaten bemerkbaren großen
Lücken im Schulbesuche. Ein Schulbericht von New-Jersey sagt: "Wir machen
in allem, was die Schulen betrifft, befriedigende Fortschritte, ausgenommen in
Einem. Selten wird das für die Schule erforderliche Geld ungern bewilligt,
die Schulzeit wird uach und uach verlängert" -- sie beträgt jetzt 194 Tage im


Grenzlwtcn III. 1377. 64

land gewöhnlich fünf Jahre. In Amerika erfordert dieses Studium nominell
drei, in Wirklichkeit aber nur zwei Jahre; denn der Studirende muß das dritte
Jahr daran wenden, daß er bei einem in gutem Rufe stehenden Arzte als
Assistent praktizirt. Dann muß er mit einem Zeugniß des letzteren den Be¬
weis führen, daß er dieser Formalität genügt hat. Außerdem ist das Jahr
auf den Winterkursns von vier Monaten beschränkt. Während der Dauer
seiner Studien wird der Studirende keiner Prüfung unterzogen. Um den
Doktortitel zu erlangen, muß er dem Dekan der Fakultät eine eigenhändig ge¬
schriebene Abhandlung überreichen. Ist diese zufriedenstellend ausgefallen, so
wird der Verfasser derselben von jedem Professor der Fakultät einzeln geprüft,
doch geschieht dies nicht öffentlich, sondern wird unter vier Augen in der
Wohnung des Examinators vorgenommen. Sind alle, die sich gemeldet haben,
ans diese Art geprüft, so versammelt sich die Fakultät und verleiht denen, welche
weniger als drei schwarze Kugeln bekommen haben, das Doktordiplom, wobei
zu bemerken ist, daß nur selten Kandidaten durchfallen.

Das Angeführte und dnrch Aeußerungen amerikanischer Fachmänner Er¬
härtete legt Schäden blos, die ihren Grund in der Organisation des Unter¬
richtswesens und dessen Leitung haben. Ihnen reiht sich aber noch ein anderes
Moment an: die verhältnißmäßig geringe Benutzung der Schule. Die Zahl
der in die öffentlichen Schulen Eingeschriebenen beträgt nur etwa 62 Prozent
der Schulbevölkerung und ungefähr 83 Prozent der auf die Altersklassen vom
sechsten bis zum sechzehnten Jahre entfallenden Individuell. Allem der wirk¬
liche Schulbesuch, d. h. der durchschnittliche Tagesbesnch macht seinerseits wie¬
der nicht viel mehr als 30 Prozent der ersteren und 40 Prozent der letzteren ans.
Da die Ziffern des Privatnnterrichts im Ganzen spärlich sind, drängt sich uns
aus den obigen Daten die unerfreuliche Folgerung ans, daß mehr als die
Hälfte der Individuen aus den hier am meisten in Betracht kommenden Alters¬
klassen eines systematischen Schulunterrichtes entbehrt. Diese Erscheinung über¬
rascht aber um so mehr, als bis jetzt in elf Staaten: New-Iork, New-Jersey,
Rhode Island, Connecticut, Massachusetts, New-Hampshire, Vermont, Michi-
gan, Texas, Nevada und Californien der Schulzwang eingeführt worden ist.
Man wird gut thun, anzunehmen, daß er dort nur auf dem Papiere steht.
Die Nachfrage uach Kinderarbeit ist groß, und ökonomische Gründe, gepaart
mit Uuterschützung des Werthes der Bildung erzeugen die in obiger Darstel¬
lung nachgewiesenen und anch in den genannten elf Staaten bemerkbaren großen
Lücken im Schulbesuche. Ein Schulbericht von New-Jersey sagt: „Wir machen
in allem, was die Schulen betrifft, befriedigende Fortschritte, ausgenommen in
Einem. Selten wird das für die Schule erforderliche Geld ungern bewilligt,
die Schulzeit wird uach und uach verlängert" — sie beträgt jetzt 194 Tage im


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/513>, abgerufen am 13.06.2024.