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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band.

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welcher es im 106. Artikel heißt: "So einer Gott zumißt, daß Gott nicht
bequem ist, oder mit seinen Worten Gott, das ihm zustehet, abscheidet, die
Allmüchtigkeit Gottes, seine heilige Mutter, die Jungfrau Maricnn schändet,
soll durch die Amtleute oder Richter von Amtswegen angenommen, eingelegt
und darum an Leib, Leben oder Gliedern nach Gelegenheit'und Gestalt der
Lästerung und Person gestraft werden." Es liegt am Tage, daß diesem Gesetze,
das aus dem päpstlichen Kirchenrechte in die Karolina übergegangen ist,
ursprünglich das Mißverständniß einer nlttestamentlichen Anordnung zu Grunde
liegt. Wie das ganze Papstthum und die Hierarchie in dem ersten Keime auf falscher
Auffassung alttestamentlicher Ideen beruhte, so wurde, als seit Constantin's
Zeiten das Christenthum in die Staatseinrichtungen verflochten ward, und
diese in jenes, unter anderen Gesetzen auch das erwähnte, das der besonderen
Stellung des israelitische^ Volkes gemäß im alten Testamente als iutegrirender
Theil des Ganzen durchaus uicht fehlen durste, fälschlich in die christliche
Kirche übertragen. Als eine mächtige Stütze der hierarchischen Gewalt ward
dieses Gesetz späterhin bei der Ausbildung des kanonischen Rechtes durch die
Scholastik immer fester begründet und ging auch bald in das Volksleben über.
Die ersten Reformatoren -- namentlich Luther, dessen Grundsatz es war, nie
einer willkürlich selbstgewählten Thätigkeit sich zu überlassen, sondern, den
Augenblick ergreifend, nur immer das dringendste Bedürfniß zu befriedigen und
die Hauptsache die Hauptsache sein zu lassen -- wurden ans eine nähere Prüfung
dieses Gegenstandes nicht geführt. Ueberdies war der Glaube an die absolute
Gültigkeit dieses Gesetzes durch Verjährung und lange Gewohnheit so befestigt,
daß nicht nur der scharfblickende Calvin für die Verbrennung des Servet
stimmte, sondern selbst der milde Melanchthon ähnliche Grundsätze äußerte;
ein hurtiger Beweis, wie höchst gefährlich ein jedes Festhalten an hergebrachten
Gewohnheiten und Urtheilen werden kann. Erst nach und nach wurde in
protestantischen Staaten die Strafe, die dieses Gesetz forderte, gemildert.

Es war also jetzt noch auszumitteln, ob Günther wirklich als Gottes¬
lästerer zu behandeln sei. Dies ward der theologischen Fakultät zu Wittenberg
übertragen. Ihr Gutachten beweist, wie nur zu viele Belege, welche die Ge¬
schichte davon aufstellt, die Wahrheit dessen, was ein großer Mann sagt: "Das
Heilige heilig halten, vor jeder Entweihung desselben wie vor einer Missethat
zurückschaudern, um das Heilige eifern und dafür kämpfen, ohne Rücksicht auf
Gewinn und Schaden, auf Ehre und Schande, das ist heilig und verehrungs¬
würdig, und die Menschen, die das gethan haben, sind unter den Wohlthätern
der Menschheit die größten. Aber es ist ein blutiger Jammer, wenn der
Mensch um das Heilige und Göttliche eifert mit Unverstand; und es ist mehr,
als das, es ist eine der tiefsten Tiefen des menschlichen Verfalls, wenn un-


Grenzboten IN. 1877. ?0

welcher es im 106. Artikel heißt: „So einer Gott zumißt, daß Gott nicht
bequem ist, oder mit seinen Worten Gott, das ihm zustehet, abscheidet, die
Allmüchtigkeit Gottes, seine heilige Mutter, die Jungfrau Maricnn schändet,
soll durch die Amtleute oder Richter von Amtswegen angenommen, eingelegt
und darum an Leib, Leben oder Gliedern nach Gelegenheit'und Gestalt der
Lästerung und Person gestraft werden." Es liegt am Tage, daß diesem Gesetze,
das aus dem päpstlichen Kirchenrechte in die Karolina übergegangen ist,
ursprünglich das Mißverständniß einer nlttestamentlichen Anordnung zu Grunde
liegt. Wie das ganze Papstthum und die Hierarchie in dem ersten Keime auf falscher
Auffassung alttestamentlicher Ideen beruhte, so wurde, als seit Constantin's
Zeiten das Christenthum in die Staatseinrichtungen verflochten ward, und
diese in jenes, unter anderen Gesetzen auch das erwähnte, das der besonderen
Stellung des israelitische^ Volkes gemäß im alten Testamente als iutegrirender
Theil des Ganzen durchaus uicht fehlen durste, fälschlich in die christliche
Kirche übertragen. Als eine mächtige Stütze der hierarchischen Gewalt ward
dieses Gesetz späterhin bei der Ausbildung des kanonischen Rechtes durch die
Scholastik immer fester begründet und ging auch bald in das Volksleben über.
Die ersten Reformatoren — namentlich Luther, dessen Grundsatz es war, nie
einer willkürlich selbstgewählten Thätigkeit sich zu überlassen, sondern, den
Augenblick ergreifend, nur immer das dringendste Bedürfniß zu befriedigen und
die Hauptsache die Hauptsache sein zu lassen — wurden ans eine nähere Prüfung
dieses Gegenstandes nicht geführt. Ueberdies war der Glaube an die absolute
Gültigkeit dieses Gesetzes durch Verjährung und lange Gewohnheit so befestigt,
daß nicht nur der scharfblickende Calvin für die Verbrennung des Servet
stimmte, sondern selbst der milde Melanchthon ähnliche Grundsätze äußerte;
ein hurtiger Beweis, wie höchst gefährlich ein jedes Festhalten an hergebrachten
Gewohnheiten und Urtheilen werden kann. Erst nach und nach wurde in
protestantischen Staaten die Strafe, die dieses Gesetz forderte, gemildert.

Es war also jetzt noch auszumitteln, ob Günther wirklich als Gottes¬
lästerer zu behandeln sei. Dies ward der theologischen Fakultät zu Wittenberg
übertragen. Ihr Gutachten beweist, wie nur zu viele Belege, welche die Ge¬
schichte davon aufstellt, die Wahrheit dessen, was ein großer Mann sagt: „Das
Heilige heilig halten, vor jeder Entweihung desselben wie vor einer Missethat
zurückschaudern, um das Heilige eifern und dafür kämpfen, ohne Rücksicht auf
Gewinn und Schaden, auf Ehre und Schande, das ist heilig und verehrungs¬
würdig, und die Menschen, die das gethan haben, sind unter den Wohlthätern
der Menschheit die größten. Aber es ist ein blutiger Jammer, wenn der
Mensch um das Heilige und Göttliche eifert mit Unverstand; und es ist mehr,
als das, es ist eine der tiefsten Tiefen des menschlichen Verfalls, wenn un-


Grenzboten IN. 1877. ?0
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157647/81>, abgerufen am 13.06.2024.