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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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auch durchaus keinen Zwang auf. Schwerer aber traf es ihn augenscheinlich,
daß auch seine eigenen Vereinsgenossen ihn thatsächlich descwouirten und
namentlich die Bonner Professoren Held und Nasse in den feurigen Wein seiner
Resolutionen und Thesen so viel Milch der frommen Denkungsart mischten,
daß selbst Karl Braun und seine Freunde vom volkswirthschaftlichen Kongresse
für dieselben stimmen konnten und stimmten. Nunmehr gab Wagner den Ver¬
ein für Sozialpolitik" hoffnungslos verloren und übertrug die Fehde aufs
literarische Gebiet. Er veröffentlichte sein Referat über die Kommuualsteucr-
frage mit einem pvlemisirenden Nachworte und provozirte damit eine Antwort
Held's. Mit diesen Publikationen dürften die zeitgenössischen Akten über den
Knthedersozialismus im eigentlichen Sinne des Worts, insoweit er nicht so¬
wohl als umgestaltende, wie als umwälzende Organisation in unsere sozial¬
politischen Verhältnisse eingreifen wollte, mindestens vorläufig geschlossen sein.*)

Adolf Wagner ist ohne Frage ein gewandter und scharfsinniger, aber er
ist keineswegs in gleichem Maße ein klarer und konsequenter Kopf. Er regt
vielmehr an und auf, als daß er begründet und entwickelt. Sein Urtheil ist
ebenso schroff, wie es veränderlich ist. Er liebt den Kampf und es ist offen¬
bar Lassalles Schatten, der ihn beunruhigt. Was er in seiner Broschüre über
die öffentliche Verketzerung des Sozialismus, über die Ungerechtigkeit und Un¬
wissenheit der Presse sagt, ist nur ein matter Aufguß der Schlagworte, welche
Lassalle vor fünfzehn Jahren zuerst mit dreimal mehr Geist und zu seiner Zeit,
wie von feinem Standpunkte aus auch mit dreimal mehr Recht formulirte.
Sachlich erklärt Wagner für die hauptsächliche Aufgabe des Vereins für Sozial¬
politik, das im wissenschaftlichen Sozialismus Haltbare und Nichtige, das selbst
in den Forderungen der Sozialdemokratie immerhin Berechtigte und Ausführ¬
bare offen anzuerkennen und demgemäß zur eigenen Forderung zu erheben.
Er findet dies "Prinzip" in dem freundschaftlichen Bündnisse mit dem volks¬
wirthschaftlichen Kongresse verletzt; er sieht darin ein unerlaubtes "Kompro-
mittiren", eine "prinzipielle Abneigung gegen Prinzipien", eine Selbstvernich¬
tung, die den Verein unfähig mache, zu den "großen Gedanken" des Sozialis-
mus unbefangene Stellung zu nehmen, als welche "große Gedanken" er die
Kritik des Privateigenthums an Grund und Boden und Kapital, sowie des
Erbrechts und die Forderung einer Abschaffung dieser Rechtsinstitute; die
Kritik der heutigen, regellosen Produktion und die Forderung einer planvollen



*) Adolf Wagner, die Kommuualsteucrfrage. Mit einem Nachworte: der Verein für
Sozialpolitik und seine Verbindung mit dein volkswirthschaftlichen Kongresse. Leipzig, Win¬
ter 1378. -- Adolf Held, Sozialismus, Sozialdemokratie und Sozialpolitik. Leipzig,
Duncker K Humblot 1373.

auch durchaus keinen Zwang auf. Schwerer aber traf es ihn augenscheinlich,
daß auch seine eigenen Vereinsgenossen ihn thatsächlich descwouirten und
namentlich die Bonner Professoren Held und Nasse in den feurigen Wein seiner
Resolutionen und Thesen so viel Milch der frommen Denkungsart mischten,
daß selbst Karl Braun und seine Freunde vom volkswirthschaftlichen Kongresse
für dieselben stimmen konnten und stimmten. Nunmehr gab Wagner den Ver¬
ein für Sozialpolitik" hoffnungslos verloren und übertrug die Fehde aufs
literarische Gebiet. Er veröffentlichte sein Referat über die Kommuualsteucr-
frage mit einem pvlemisirenden Nachworte und provozirte damit eine Antwort
Held's. Mit diesen Publikationen dürften die zeitgenössischen Akten über den
Knthedersozialismus im eigentlichen Sinne des Worts, insoweit er nicht so¬
wohl als umgestaltende, wie als umwälzende Organisation in unsere sozial¬
politischen Verhältnisse eingreifen wollte, mindestens vorläufig geschlossen sein.*)

Adolf Wagner ist ohne Frage ein gewandter und scharfsinniger, aber er
ist keineswegs in gleichem Maße ein klarer und konsequenter Kopf. Er regt
vielmehr an und auf, als daß er begründet und entwickelt. Sein Urtheil ist
ebenso schroff, wie es veränderlich ist. Er liebt den Kampf und es ist offen¬
bar Lassalles Schatten, der ihn beunruhigt. Was er in seiner Broschüre über
die öffentliche Verketzerung des Sozialismus, über die Ungerechtigkeit und Un¬
wissenheit der Presse sagt, ist nur ein matter Aufguß der Schlagworte, welche
Lassalle vor fünfzehn Jahren zuerst mit dreimal mehr Geist und zu seiner Zeit,
wie von feinem Standpunkte aus auch mit dreimal mehr Recht formulirte.
Sachlich erklärt Wagner für die hauptsächliche Aufgabe des Vereins für Sozial¬
politik, das im wissenschaftlichen Sozialismus Haltbare und Nichtige, das selbst
in den Forderungen der Sozialdemokratie immerhin Berechtigte und Ausführ¬
bare offen anzuerkennen und demgemäß zur eigenen Forderung zu erheben.
Er findet dies „Prinzip" in dem freundschaftlichen Bündnisse mit dem volks¬
wirthschaftlichen Kongresse verletzt; er sieht darin ein unerlaubtes „Kompro-
mittiren", eine „prinzipielle Abneigung gegen Prinzipien", eine Selbstvernich¬
tung, die den Verein unfähig mache, zu den „großen Gedanken" des Sozialis-
mus unbefangene Stellung zu nehmen, als welche „große Gedanken" er die
Kritik des Privateigenthums an Grund und Boden und Kapital, sowie des
Erbrechts und die Forderung einer Abschaffung dieser Rechtsinstitute; die
Kritik der heutigen, regellosen Produktion und die Forderung einer planvollen



*) Adolf Wagner, die Kommuualsteucrfrage. Mit einem Nachworte: der Verein für
Sozialpolitik und seine Verbindung mit dein volkswirthschaftlichen Kongresse. Leipzig, Win¬
ter 1378. — Adolf Held, Sozialismus, Sozialdemokratie und Sozialpolitik. Leipzig,
Duncker K Humblot 1373.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/184>, abgerufen am 31.05.2024.