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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Uhr sei abgelaufen, gab noch zu dem humoristischen Nachspiele Anlaß, daß
sich Hofprediger Stöcker in beweglichen Zuschriften an die Presse beschwerte,
der sozialdemokratische Agitator habe mit einem poetischen Citate zum Morde
gehetzt.

Eine zweite, von den Staatssozialisten zum 5. Januar berufene Volks¬
versammlung verlief insofern ruhiger, als die sozialdemokratische Majorität sie
nicht spreugte, sondern nur beobachtete. Die Blätter dieser Partei sprechen
unverhohlen ans, daß ihnen die neue "Macheuschaft" harmlos genug erscheine
und daß sie ihr nur entgegentreten würden, wo eine praktische Gefahr drohe,
daß "Unfug" unter den Arbeitern gestiftet werden könne. Anscheinend halten
sie diese Gefahr nicht für groß; dafür spricht, daß sie diese zweite Versamm¬
lung nicht sprengten und sich auch den Vorsitz des Freiherrn von Roell ruhig
gefallen ließen. Nach Schluß der Debatten stimmten sie die Arbeiterinarseil-
laise an, während die Staatssozialisten als ihren Erfolg rühmen, daß sich
fünfzig Arbeiter in die Vereinslisten eingezeichnet hätten und daß sich unter
diesem Häuflein auch ein Theil bisheriger Sozialdemokraten befände. Letztere
Thatsache diirfte richtig sein, denn die kommunistische Presse bestreitet sie nicht
an sich, sondern erklärt sie nur dahin, daß einzelne Parteigenossen sich unter
täuschender Maske in das Lager der Gegner begeben hätten, um bessere Wacht
halten zu können. Wie dem um immer sei -- der berauschende Erfolg, fünfzig,
sage und schreibe fünfzig Arbeiter hinter sich zu haben, begeisterte die Staats-
sozialisten zu einem neuen Kvup, zur Begründung einer "Arbeiterpartei für
christlich-monarchische Sozialreform." Die dritte Nummer des "Staatssozialist"
enthält einen Aufruf an alle Freunde der Sache um "gütigst baldige Vor¬
schläge und Rathschlüsse" darüber, was die neue Arbeiterpartei programmmüßig
vom Staate, vou der Kirche, von den übrigen Gewalten verlangen, worauf
sich die Staats- und worauf die Selbsthilfe erstrecken solle, welche Hebel
sogleich angesetzt werden könnten, um das leibliche, geistige und moralische
Wohl des Arbeiterstandes zu heben und so weiter.

Dies sind die Leiden und Thaten der Staatssozialisten oder Christlich-
Sozialen oder wie sie sich sonst nennen mögen, während der ersten vierzehn
Tage ihres Bestehens als Vereinsorganisation. Man sieht, diese Gespenster
reiten schnell, und es ist schwer zu erkennen, wie sie ihren letzten Knalleffekt
noch zu überbieten gedenken. Denn die Gründung einer Partei, noch dazu einer
Arbeiterpartei, die in öffentlichen Ausrufen ein wohlwollendes Publikum um
"baldigst-gütige" Aufklärung darüber ersucht, was sie deun eigentlich wolle oder
wollen solle, ist ein so anmuthiger Scherz, daß er die melancholische Weis¬
heit des seligen Ben Mba gründlich dementirt.


Franz Mehring.


Uhr sei abgelaufen, gab noch zu dem humoristischen Nachspiele Anlaß, daß
sich Hofprediger Stöcker in beweglichen Zuschriften an die Presse beschwerte,
der sozialdemokratische Agitator habe mit einem poetischen Citate zum Morde
gehetzt.

Eine zweite, von den Staatssozialisten zum 5. Januar berufene Volks¬
versammlung verlief insofern ruhiger, als die sozialdemokratische Majorität sie
nicht spreugte, sondern nur beobachtete. Die Blätter dieser Partei sprechen
unverhohlen ans, daß ihnen die neue „Macheuschaft" harmlos genug erscheine
und daß sie ihr nur entgegentreten würden, wo eine praktische Gefahr drohe,
daß „Unfug" unter den Arbeitern gestiftet werden könne. Anscheinend halten
sie diese Gefahr nicht für groß; dafür spricht, daß sie diese zweite Versamm¬
lung nicht sprengten und sich auch den Vorsitz des Freiherrn von Roell ruhig
gefallen ließen. Nach Schluß der Debatten stimmten sie die Arbeiterinarseil-
laise an, während die Staatssozialisten als ihren Erfolg rühmen, daß sich
fünfzig Arbeiter in die Vereinslisten eingezeichnet hätten und daß sich unter
diesem Häuflein auch ein Theil bisheriger Sozialdemokraten befände. Letztere
Thatsache diirfte richtig sein, denn die kommunistische Presse bestreitet sie nicht
an sich, sondern erklärt sie nur dahin, daß einzelne Parteigenossen sich unter
täuschender Maske in das Lager der Gegner begeben hätten, um bessere Wacht
halten zu können. Wie dem um immer sei — der berauschende Erfolg, fünfzig,
sage und schreibe fünfzig Arbeiter hinter sich zu haben, begeisterte die Staats-
sozialisten zu einem neuen Kvup, zur Begründung einer „Arbeiterpartei für
christlich-monarchische Sozialreform." Die dritte Nummer des „Staatssozialist"
enthält einen Aufruf an alle Freunde der Sache um „gütigst baldige Vor¬
schläge und Rathschlüsse" darüber, was die neue Arbeiterpartei programmmüßig
vom Staate, vou der Kirche, von den übrigen Gewalten verlangen, worauf
sich die Staats- und worauf die Selbsthilfe erstrecken solle, welche Hebel
sogleich angesetzt werden könnten, um das leibliche, geistige und moralische
Wohl des Arbeiterstandes zu heben und so weiter.

Dies sind die Leiden und Thaten der Staatssozialisten oder Christlich-
Sozialen oder wie sie sich sonst nennen mögen, während der ersten vierzehn
Tage ihres Bestehens als Vereinsorganisation. Man sieht, diese Gespenster
reiten schnell, und es ist schwer zu erkennen, wie sie ihren letzten Knalleffekt
noch zu überbieten gedenken. Denn die Gründung einer Partei, noch dazu einer
Arbeiterpartei, die in öffentlichen Ausrufen ein wohlwollendes Publikum um
„baldigst-gütige" Aufklärung darüber ersucht, was sie deun eigentlich wolle oder
wollen solle, ist ein so anmuthiger Scherz, daß er die melancholische Weis¬
heit des seligen Ben Mba gründlich dementirt.


Franz Mehring.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/191>, abgerufen am 14.05.2024.