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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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der einzelnen Landestheile, sondern sind im Besitz des Staatsganzen, und,
wenn dieses sich derselben zu Gunsten eines andern Staates entäußert oder
diesen durch seine Handlungen nöthigt, sich ihrer zu bemächtigen, so ist da¬
gegen vom Standpunkt des formalen Rechts nichts einzuwenden. Die Billig¬
keit von Verträgen und Gesetzen, welche durch die rechtmäßigen Organe des
Staats zu Staude gekommen sind, kann nicht von der Zustimmung der Ein-
zelnen, wenn sie auch besonders dabei interessirt sind, abhängig gemacht wer¬
den. Sagt man, über die eventuelle Abtretung eines Landestheils solle die Be¬
völkerung desselben entscheiden, so heißt das nichts anderes, als die Abtretung
soll unterbleiben, kein Staat darf, auch nicht für den empörendsten Raubanfall,
durch Verringerung seines Gebiets bestraft werden, er darf, was er auch thue,
nie fürchten, daß seine für den Nachbar Gefahr bringende Macht beschränkt
werde. Denn in wie seltenen Fällen werden die Angehörigen eines Staats
den Wunsch haben, den Zusammenhang mit demselben aufzulösen und sich mit
dem Volke zu verschmelzen, gegen das sie so eben noch gekämpft haben. Und
so hat denn Deutschland guten Grund und gutes Recht gehabt, sich des Elsasses
und Lothringens zu bemächtigen, um endlich einmal gegen die Gelüste Frank¬
reichs nach deutschem Lande ein kräftigeres Bollwerk als bisher zu besitzen.

Der Vortrag "Nationalität und Humanität", der aus dem Jahre 1873
stammt, verfolgt, wie es uns scheint, die sehr heilsame Tendenz, unser Volk
vor der moralischen Schädigung zu schützen, die aus einem übermäßig gestei¬
gerten Nativncilgefühl erwächst. Das Interesse für Humanität hatte uns das
Auge offen gehalten für den eigenthümlichen Werth aller fremder Nationen,
aber unter dieser Vielseitigkeit des Blicks und der Schätzung hatte das Be¬
wußtsein unsers eigenen Werthes Schaden gelitten; werden wir jetzt, da dieses
erwacht ist, der entgegengesetzte Gefahr erliegen, und die Fähigkeit verlieren,
die Vorzüge anderer Völker zu erkennen und uns anzueignen? Diese Besorgnis?
wird nur dann schwinden können, wenn wir uns selbst als ein Glied im
großen Ganzen der Menschheit ansehen, und uns verpflichtet wissen, für diese
durch unser Sein und unsere Leistungen werthvolle Güter zu erzeugen; denn
dann ist nationale Selbstschätzung keine Hemmung, sondern eine Bedingung
für die Entwickelung der Humanität.

Wenden wir uns jetzt zu den Untersuchungen, welche der Erkenntnistheorie
gewidmet sind und präzisireu wir den Standpunkt, welchen sie einnehmen. Es
kommt hier vor allein der Vortrag: "Ueber Bedeutung und Aufgabe der Er-
keuutnißtheorie" mit deu daran sich knüpfenden eingehenden und sehr sorg¬
fältig gearbeiteten Zusätzen in Betracht. Wir können die Stellung Zeller's in
dieser Beziehung als eine vermittelnde bezeichnen, und wir gehen wohl nicht
irre, wenn wir hier eine Verwandtschaft mit Treudelenburgs Anschauungen


der einzelnen Landestheile, sondern sind im Besitz des Staatsganzen, und,
wenn dieses sich derselben zu Gunsten eines andern Staates entäußert oder
diesen durch seine Handlungen nöthigt, sich ihrer zu bemächtigen, so ist da¬
gegen vom Standpunkt des formalen Rechts nichts einzuwenden. Die Billig¬
keit von Verträgen und Gesetzen, welche durch die rechtmäßigen Organe des
Staats zu Staude gekommen sind, kann nicht von der Zustimmung der Ein-
zelnen, wenn sie auch besonders dabei interessirt sind, abhängig gemacht wer¬
den. Sagt man, über die eventuelle Abtretung eines Landestheils solle die Be¬
völkerung desselben entscheiden, so heißt das nichts anderes, als die Abtretung
soll unterbleiben, kein Staat darf, auch nicht für den empörendsten Raubanfall,
durch Verringerung seines Gebiets bestraft werden, er darf, was er auch thue,
nie fürchten, daß seine für den Nachbar Gefahr bringende Macht beschränkt
werde. Denn in wie seltenen Fällen werden die Angehörigen eines Staats
den Wunsch haben, den Zusammenhang mit demselben aufzulösen und sich mit
dem Volke zu verschmelzen, gegen das sie so eben noch gekämpft haben. Und
so hat denn Deutschland guten Grund und gutes Recht gehabt, sich des Elsasses
und Lothringens zu bemächtigen, um endlich einmal gegen die Gelüste Frank¬
reichs nach deutschem Lande ein kräftigeres Bollwerk als bisher zu besitzen.

Der Vortrag „Nationalität und Humanität", der aus dem Jahre 1873
stammt, verfolgt, wie es uns scheint, die sehr heilsame Tendenz, unser Volk
vor der moralischen Schädigung zu schützen, die aus einem übermäßig gestei¬
gerten Nativncilgefühl erwächst. Das Interesse für Humanität hatte uns das
Auge offen gehalten für den eigenthümlichen Werth aller fremder Nationen,
aber unter dieser Vielseitigkeit des Blicks und der Schätzung hatte das Be¬
wußtsein unsers eigenen Werthes Schaden gelitten; werden wir jetzt, da dieses
erwacht ist, der entgegengesetzte Gefahr erliegen, und die Fähigkeit verlieren,
die Vorzüge anderer Völker zu erkennen und uns anzueignen? Diese Besorgnis?
wird nur dann schwinden können, wenn wir uns selbst als ein Glied im
großen Ganzen der Menschheit ansehen, und uns verpflichtet wissen, für diese
durch unser Sein und unsere Leistungen werthvolle Güter zu erzeugen; denn
dann ist nationale Selbstschätzung keine Hemmung, sondern eine Bedingung
für die Entwickelung der Humanität.

Wenden wir uns jetzt zu den Untersuchungen, welche der Erkenntnistheorie
gewidmet sind und präzisireu wir den Standpunkt, welchen sie einnehmen. Es
kommt hier vor allein der Vortrag: „Ueber Bedeutung und Aufgabe der Er-
keuutnißtheorie" mit deu daran sich knüpfenden eingehenden und sehr sorg¬
fältig gearbeiteten Zusätzen in Betracht. Wir können die Stellung Zeller's in
dieser Beziehung als eine vermittelnde bezeichnen, und wir gehen wohl nicht
irre, wenn wir hier eine Verwandtschaft mit Treudelenburgs Anschauungen


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[0221] der einzelnen Landestheile, sondern sind im Besitz des Staatsganzen, und, wenn dieses sich derselben zu Gunsten eines andern Staates entäußert oder diesen durch seine Handlungen nöthigt, sich ihrer zu bemächtigen, so ist da¬ gegen vom Standpunkt des formalen Rechts nichts einzuwenden. Die Billig¬ keit von Verträgen und Gesetzen, welche durch die rechtmäßigen Organe des Staats zu Staude gekommen sind, kann nicht von der Zustimmung der Ein- zelnen, wenn sie auch besonders dabei interessirt sind, abhängig gemacht wer¬ den. Sagt man, über die eventuelle Abtretung eines Landestheils solle die Be¬ völkerung desselben entscheiden, so heißt das nichts anderes, als die Abtretung soll unterbleiben, kein Staat darf, auch nicht für den empörendsten Raubanfall, durch Verringerung seines Gebiets bestraft werden, er darf, was er auch thue, nie fürchten, daß seine für den Nachbar Gefahr bringende Macht beschränkt werde. Denn in wie seltenen Fällen werden die Angehörigen eines Staats den Wunsch haben, den Zusammenhang mit demselben aufzulösen und sich mit dem Volke zu verschmelzen, gegen das sie so eben noch gekämpft haben. Und so hat denn Deutschland guten Grund und gutes Recht gehabt, sich des Elsasses und Lothringens zu bemächtigen, um endlich einmal gegen die Gelüste Frank¬ reichs nach deutschem Lande ein kräftigeres Bollwerk als bisher zu besitzen. Der Vortrag „Nationalität und Humanität", der aus dem Jahre 1873 stammt, verfolgt, wie es uns scheint, die sehr heilsame Tendenz, unser Volk vor der moralischen Schädigung zu schützen, die aus einem übermäßig gestei¬ gerten Nativncilgefühl erwächst. Das Interesse für Humanität hatte uns das Auge offen gehalten für den eigenthümlichen Werth aller fremder Nationen, aber unter dieser Vielseitigkeit des Blicks und der Schätzung hatte das Be¬ wußtsein unsers eigenen Werthes Schaden gelitten; werden wir jetzt, da dieses erwacht ist, der entgegengesetzte Gefahr erliegen, und die Fähigkeit verlieren, die Vorzüge anderer Völker zu erkennen und uns anzueignen? Diese Besorgnis? wird nur dann schwinden können, wenn wir uns selbst als ein Glied im großen Ganzen der Menschheit ansehen, und uns verpflichtet wissen, für diese durch unser Sein und unsere Leistungen werthvolle Güter zu erzeugen; denn dann ist nationale Selbstschätzung keine Hemmung, sondern eine Bedingung für die Entwickelung der Humanität. Wenden wir uns jetzt zu den Untersuchungen, welche der Erkenntnistheorie gewidmet sind und präzisireu wir den Standpunkt, welchen sie einnehmen. Es kommt hier vor allein der Vortrag: „Ueber Bedeutung und Aufgabe der Er- keuutnißtheorie" mit deu daran sich knüpfenden eingehenden und sehr sorg¬ fältig gearbeiteten Zusätzen in Betracht. Wir können die Stellung Zeller's in dieser Beziehung als eine vermittelnde bezeichnen, und wir gehen wohl nicht irre, wenn wir hier eine Verwandtschaft mit Treudelenburgs Anschauungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/221>, abgerufen am 05.06.2024.