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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Reichstag, welche im Jahre 1871 noch 12 Mitglieder aus Württemberg zählte,
heute thatsächlich uur noch einen einzigen Württemberger in ihren Reihen hat,
so ist daran nicht am wenigsten die arge Täuschung schuld, in welche sich
gewisse Mitglieder des linken Flügels dieser Partei durch die den Persönlichkeiten
Rechnung tragenden Schmeicheleien von Stuttgarter Diplomaten über die wirkliche
Sachlage versetzen ließen.

Wir beginnen heute damit zu konstatiren, daß sich dermalen das ganze
öffentliche Leben in Württemberg in einem Zustande innerer Auflösung be¬
findet, für welchen wir vergebens in einem der andern deutschen Staaten nach
einem Analogon suchen. Die Parteigegensätze, welche in Bayern und Baden
trotz ihrer Schroffheit ein reges politisches Leben nie gehindert haben, sind in
Württemberg mehr und mehr von der Oberfläche des politischen Lebens ver¬
drängt. Die. Volkspartei, die ultramontane, und die nationalliberale Partei
sind thatsächlich vom Schauplatz verschwunden und zu Atomen ausgelöst unter
dem alles beherrschenden Einfluß der Regierung. Der Ultramontane, der
Volksparteiler und der Maun der "deutschen Partei" glauben, ohne ihren
Grundsätzen (?) etwas zu vergeben, neben einander in der Regierungspartei
sich zusammen finden zu können; sie alle haben sich um die Wette zur Auf¬
nahme beworben, und da die Devise der Regierung nur lautet: "unbedingte
Hingebung an das Gouvernement, Friede um jeden Preis, Aufgeben jedes
Parteiprinzips", den Aufgenommenen aber Vortheile aller Art winken, so darf
man sich nicht wundern, wenn die Partei der Charakterschwachen so groß ge¬
worden ist, daß für den Augenblick alle bisherigen Parteien im Lande an
dieser einen Partei zu Grunde gegangen sind. Unter solchen Verhältnissen, da
die ehrlichen und unabhängigen Politiker dem öffentlichen Leben mehr und mehr
den Rücken kehren und einer Schacir ehrgeiziger Streber aus dem Beamtenthum
die Bühne überlassen, muß der Weizen der Sozialdemokratie blühen; denn unter
allen Parteien im Lande ist sie allen ihren Prinzipien unverrückt treu geblieben,
während bei den andern angesichts der Kompromisse zwischen den Ultramontanen
und Demokraten einerseits und zwischen der "deutschen" Partei und den Pie¬
tisten und Neukvnservativen andererseits von politischen Grundsätzen nachgerade
gar nicht mehr gesprochen werden kann. Die sozialdemokratische Partei steht
auch in Württemberg, trotz ihrer großen Erfolge neuesten Datums, wohl erst
im Beginn ihres Siegeslaufs, denn wie wir zeigen werden, ist der Boden für
fie nirgends so günstig, wie hier. Die Ursachen dieser politischen Auflösung
liegen sehr nahe.

Die schwerste Krankheit, an welcher wir seit Jahren leiden, ist un¬
zweifelhaft das, in Württemberg allein bis zur letzten Konsequenz durch¬
geführte allgemeine Stimmrecht. Als neulich die sächsische Stände-


Reichstag, welche im Jahre 1871 noch 12 Mitglieder aus Württemberg zählte,
heute thatsächlich uur noch einen einzigen Württemberger in ihren Reihen hat,
so ist daran nicht am wenigsten die arge Täuschung schuld, in welche sich
gewisse Mitglieder des linken Flügels dieser Partei durch die den Persönlichkeiten
Rechnung tragenden Schmeicheleien von Stuttgarter Diplomaten über die wirkliche
Sachlage versetzen ließen.

Wir beginnen heute damit zu konstatiren, daß sich dermalen das ganze
öffentliche Leben in Württemberg in einem Zustande innerer Auflösung be¬
findet, für welchen wir vergebens in einem der andern deutschen Staaten nach
einem Analogon suchen. Die Parteigegensätze, welche in Bayern und Baden
trotz ihrer Schroffheit ein reges politisches Leben nie gehindert haben, sind in
Württemberg mehr und mehr von der Oberfläche des politischen Lebens ver¬
drängt. Die. Volkspartei, die ultramontane, und die nationalliberale Partei
sind thatsächlich vom Schauplatz verschwunden und zu Atomen ausgelöst unter
dem alles beherrschenden Einfluß der Regierung. Der Ultramontane, der
Volksparteiler und der Maun der „deutschen Partei" glauben, ohne ihren
Grundsätzen (?) etwas zu vergeben, neben einander in der Regierungspartei
sich zusammen finden zu können; sie alle haben sich um die Wette zur Auf¬
nahme beworben, und da die Devise der Regierung nur lautet: „unbedingte
Hingebung an das Gouvernement, Friede um jeden Preis, Aufgeben jedes
Parteiprinzips", den Aufgenommenen aber Vortheile aller Art winken, so darf
man sich nicht wundern, wenn die Partei der Charakterschwachen so groß ge¬
worden ist, daß für den Augenblick alle bisherigen Parteien im Lande an
dieser einen Partei zu Grunde gegangen sind. Unter solchen Verhältnissen, da
die ehrlichen und unabhängigen Politiker dem öffentlichen Leben mehr und mehr
den Rücken kehren und einer Schacir ehrgeiziger Streber aus dem Beamtenthum
die Bühne überlassen, muß der Weizen der Sozialdemokratie blühen; denn unter
allen Parteien im Lande ist sie allen ihren Prinzipien unverrückt treu geblieben,
während bei den andern angesichts der Kompromisse zwischen den Ultramontanen
und Demokraten einerseits und zwischen der „deutschen" Partei und den Pie¬
tisten und Neukvnservativen andererseits von politischen Grundsätzen nachgerade
gar nicht mehr gesprochen werden kann. Die sozialdemokratische Partei steht
auch in Württemberg, trotz ihrer großen Erfolge neuesten Datums, wohl erst
im Beginn ihres Siegeslaufs, denn wie wir zeigen werden, ist der Boden für
fie nirgends so günstig, wie hier. Die Ursachen dieser politischen Auflösung
liegen sehr nahe.

Die schwerste Krankheit, an welcher wir seit Jahren leiden, ist un¬
zweifelhaft das, in Württemberg allein bis zur letzten Konsequenz durch¬
geführte allgemeine Stimmrecht. Als neulich die sächsische Stände-


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[0034] Reichstag, welche im Jahre 1871 noch 12 Mitglieder aus Württemberg zählte, heute thatsächlich uur noch einen einzigen Württemberger in ihren Reihen hat, so ist daran nicht am wenigsten die arge Täuschung schuld, in welche sich gewisse Mitglieder des linken Flügels dieser Partei durch die den Persönlichkeiten Rechnung tragenden Schmeicheleien von Stuttgarter Diplomaten über die wirkliche Sachlage versetzen ließen. Wir beginnen heute damit zu konstatiren, daß sich dermalen das ganze öffentliche Leben in Württemberg in einem Zustande innerer Auflösung be¬ findet, für welchen wir vergebens in einem der andern deutschen Staaten nach einem Analogon suchen. Die Parteigegensätze, welche in Bayern und Baden trotz ihrer Schroffheit ein reges politisches Leben nie gehindert haben, sind in Württemberg mehr und mehr von der Oberfläche des politischen Lebens ver¬ drängt. Die. Volkspartei, die ultramontane, und die nationalliberale Partei sind thatsächlich vom Schauplatz verschwunden und zu Atomen ausgelöst unter dem alles beherrschenden Einfluß der Regierung. Der Ultramontane, der Volksparteiler und der Maun der „deutschen Partei" glauben, ohne ihren Grundsätzen (?) etwas zu vergeben, neben einander in der Regierungspartei sich zusammen finden zu können; sie alle haben sich um die Wette zur Auf¬ nahme beworben, und da die Devise der Regierung nur lautet: „unbedingte Hingebung an das Gouvernement, Friede um jeden Preis, Aufgeben jedes Parteiprinzips", den Aufgenommenen aber Vortheile aller Art winken, so darf man sich nicht wundern, wenn die Partei der Charakterschwachen so groß ge¬ worden ist, daß für den Augenblick alle bisherigen Parteien im Lande an dieser einen Partei zu Grunde gegangen sind. Unter solchen Verhältnissen, da die ehrlichen und unabhängigen Politiker dem öffentlichen Leben mehr und mehr den Rücken kehren und einer Schacir ehrgeiziger Streber aus dem Beamtenthum die Bühne überlassen, muß der Weizen der Sozialdemokratie blühen; denn unter allen Parteien im Lande ist sie allen ihren Prinzipien unverrückt treu geblieben, während bei den andern angesichts der Kompromisse zwischen den Ultramontanen und Demokraten einerseits und zwischen der „deutschen" Partei und den Pie¬ tisten und Neukvnservativen andererseits von politischen Grundsätzen nachgerade gar nicht mehr gesprochen werden kann. Die sozialdemokratische Partei steht auch in Württemberg, trotz ihrer großen Erfolge neuesten Datums, wohl erst im Beginn ihres Siegeslaufs, denn wie wir zeigen werden, ist der Boden für fie nirgends so günstig, wie hier. Die Ursachen dieser politischen Auflösung liegen sehr nahe. Die schwerste Krankheit, an welcher wir seit Jahren leiden, ist un¬ zweifelhaft das, in Württemberg allein bis zur letzten Konsequenz durch¬ geführte allgemeine Stimmrecht. Als neulich die sächsische Stände-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/34>, abgerufen am 14.05.2024.