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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Kräfte gewonnen und er wird daher dasselbe Geschick erfahren müssen, dem
sein älterer Bruder erlegen ist. Ein Christus, der nur dem Grade, aber nicht
der Art nach sich von uns unterscheidet; der nur durch Lehre und Beispiel,
aber nicht unmittelbar persönlich auf die Seinen aller Orte und Zeiten zu
wirken vermag/'), der ist gewiß aller Pietät würdig, aber eine Kirche kann er
nicht tragen und das Heilsverlangen der Seele kann er nicht stillen. Und
ein Glaube, der auf das Hineinragen der Kräfte einer höheren Welt in die
diesseitige in einem solchen Maße Verzicht leistet, daß er, wie Herr Schramm
thut, die Auferstehung Christi nicht einmal einer Erörterung zu unterziehen
für nöthig erachtet, darf nicht darauf rechnen, daß ihm das Erbe der Zukunft
beschieden sei. -- Der Titel des Buchs veranlaßt uns noch zu zwei Bemer¬
kungen. Der Versasser bezeichnet dasselbe als für "denkende Christen" ge¬
schrieben. Was ist damit gemeint? Soll es heißen, der Verfasser wende sich
an die Gebildeten, warum verzichtet er dann auf diesen allgemein üblichen
Begriff, um ihn durch einen weniger bestimmten zu ersetzen? Oder will er
andeuten, um sein Buch zu verstehen, sei eine namhafte Anstrengung des
Denkens nöthig? Das ist durchaus nicht der Fall; die Ansprüche, die es in
dieser Hinsicht erhebt, sind sehr gering. Oder will er zu verstehen geben,
denkende Christen seien nur in seiner Partei vorhanden, und die Fackel des
Denkens erlösche, sowie konservative Christen sie zu ergreifen wagen? Einer
solchen Anmaßung wollen wir den Verfasser nicht zeihen. Oder sollen wir
endlich in der Bezeichnung ein Höflichkeits-Kompliment sür die Leser oder wohl
gar eine Reklame für das Buch sehen? Der Verfasser ist zu fein gebildet,
um ihm dieses oder jenes zuzutrauen. Es bleibt uns durchaus unklar, welche
Vorstellungen und Absichten bei dieser Bezeichnung maßgebend gewesen sind.
Erheblicher ist die Ausstellung, die wir in Bezug auf einen andern Bestand¬
theil des Titels zu machen haben. Der Verfasser nennt sein Buch "eine Gabe
zur Konfirmation." Wir haben natürlich dagegen nichts einzuwenden, wenn
ein rationalistischer Geistlicher seinen Konfirmanden eine Schrift darbietet, in
welcher er feine Auffassung der christlichen Wahrheit entwickelt. Aber daß er
es Aeltern zumuthet, am Tage der Konfirmation ihren Kindern ein Buch zu
überreichen, durch welches eine Kritik des kirchlichen Dogmas und der evan¬
gelischen Geschichte sich überall hindurchzieht; eine Kritik, über deren Werth
oder Unwerth diese Kinder zu urtheilen durchaus unfähig sind, das können
wir nur eine pädagogische Taktlosigkeit nennen. Und wir sind sicher, in diesem



*) Doch geben wir gerne zu, daß der Verfasser hier und da versucht hat, dieser beiden
unveräußerlichen Grundlagen einer von dem christlichen Bewußtsein geforderten und biblisch
begründeten Christus-Anschauung sich zu bemächtigen, leider hat er aber die darauf hinfüh¬
renden Gedanken nicht zum befriedigenden Abschluß gebracht.

Kräfte gewonnen und er wird daher dasselbe Geschick erfahren müssen, dem
sein älterer Bruder erlegen ist. Ein Christus, der nur dem Grade, aber nicht
der Art nach sich von uns unterscheidet; der nur durch Lehre und Beispiel,
aber nicht unmittelbar persönlich auf die Seinen aller Orte und Zeiten zu
wirken vermag/'), der ist gewiß aller Pietät würdig, aber eine Kirche kann er
nicht tragen und das Heilsverlangen der Seele kann er nicht stillen. Und
ein Glaube, der auf das Hineinragen der Kräfte einer höheren Welt in die
diesseitige in einem solchen Maße Verzicht leistet, daß er, wie Herr Schramm
thut, die Auferstehung Christi nicht einmal einer Erörterung zu unterziehen
für nöthig erachtet, darf nicht darauf rechnen, daß ihm das Erbe der Zukunft
beschieden sei. — Der Titel des Buchs veranlaßt uns noch zu zwei Bemer¬
kungen. Der Versasser bezeichnet dasselbe als für „denkende Christen" ge¬
schrieben. Was ist damit gemeint? Soll es heißen, der Verfasser wende sich
an die Gebildeten, warum verzichtet er dann auf diesen allgemein üblichen
Begriff, um ihn durch einen weniger bestimmten zu ersetzen? Oder will er
andeuten, um sein Buch zu verstehen, sei eine namhafte Anstrengung des
Denkens nöthig? Das ist durchaus nicht der Fall; die Ansprüche, die es in
dieser Hinsicht erhebt, sind sehr gering. Oder will er zu verstehen geben,
denkende Christen seien nur in seiner Partei vorhanden, und die Fackel des
Denkens erlösche, sowie konservative Christen sie zu ergreifen wagen? Einer
solchen Anmaßung wollen wir den Verfasser nicht zeihen. Oder sollen wir
endlich in der Bezeichnung ein Höflichkeits-Kompliment sür die Leser oder wohl
gar eine Reklame für das Buch sehen? Der Verfasser ist zu fein gebildet,
um ihm dieses oder jenes zuzutrauen. Es bleibt uns durchaus unklar, welche
Vorstellungen und Absichten bei dieser Bezeichnung maßgebend gewesen sind.
Erheblicher ist die Ausstellung, die wir in Bezug auf einen andern Bestand¬
theil des Titels zu machen haben. Der Verfasser nennt sein Buch „eine Gabe
zur Konfirmation." Wir haben natürlich dagegen nichts einzuwenden, wenn
ein rationalistischer Geistlicher seinen Konfirmanden eine Schrift darbietet, in
welcher er feine Auffassung der christlichen Wahrheit entwickelt. Aber daß er
es Aeltern zumuthet, am Tage der Konfirmation ihren Kindern ein Buch zu
überreichen, durch welches eine Kritik des kirchlichen Dogmas und der evan¬
gelischen Geschichte sich überall hindurchzieht; eine Kritik, über deren Werth
oder Unwerth diese Kinder zu urtheilen durchaus unfähig sind, das können
wir nur eine pädagogische Taktlosigkeit nennen. Und wir sind sicher, in diesem



*) Doch geben wir gerne zu, daß der Verfasser hier und da versucht hat, dieser beiden
unveräußerlichen Grundlagen einer von dem christlichen Bewußtsein geforderten und biblisch
begründeten Christus-Anschauung sich zu bemächtigen, leider hat er aber die darauf hinfüh¬
renden Gedanken nicht zum befriedigenden Abschluß gebracht.
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[0346] Kräfte gewonnen und er wird daher dasselbe Geschick erfahren müssen, dem sein älterer Bruder erlegen ist. Ein Christus, der nur dem Grade, aber nicht der Art nach sich von uns unterscheidet; der nur durch Lehre und Beispiel, aber nicht unmittelbar persönlich auf die Seinen aller Orte und Zeiten zu wirken vermag/'), der ist gewiß aller Pietät würdig, aber eine Kirche kann er nicht tragen und das Heilsverlangen der Seele kann er nicht stillen. Und ein Glaube, der auf das Hineinragen der Kräfte einer höheren Welt in die diesseitige in einem solchen Maße Verzicht leistet, daß er, wie Herr Schramm thut, die Auferstehung Christi nicht einmal einer Erörterung zu unterziehen für nöthig erachtet, darf nicht darauf rechnen, daß ihm das Erbe der Zukunft beschieden sei. — Der Titel des Buchs veranlaßt uns noch zu zwei Bemer¬ kungen. Der Versasser bezeichnet dasselbe als für „denkende Christen" ge¬ schrieben. Was ist damit gemeint? Soll es heißen, der Verfasser wende sich an die Gebildeten, warum verzichtet er dann auf diesen allgemein üblichen Begriff, um ihn durch einen weniger bestimmten zu ersetzen? Oder will er andeuten, um sein Buch zu verstehen, sei eine namhafte Anstrengung des Denkens nöthig? Das ist durchaus nicht der Fall; die Ansprüche, die es in dieser Hinsicht erhebt, sind sehr gering. Oder will er zu verstehen geben, denkende Christen seien nur in seiner Partei vorhanden, und die Fackel des Denkens erlösche, sowie konservative Christen sie zu ergreifen wagen? Einer solchen Anmaßung wollen wir den Verfasser nicht zeihen. Oder sollen wir endlich in der Bezeichnung ein Höflichkeits-Kompliment sür die Leser oder wohl gar eine Reklame für das Buch sehen? Der Verfasser ist zu fein gebildet, um ihm dieses oder jenes zuzutrauen. Es bleibt uns durchaus unklar, welche Vorstellungen und Absichten bei dieser Bezeichnung maßgebend gewesen sind. Erheblicher ist die Ausstellung, die wir in Bezug auf einen andern Bestand¬ theil des Titels zu machen haben. Der Verfasser nennt sein Buch „eine Gabe zur Konfirmation." Wir haben natürlich dagegen nichts einzuwenden, wenn ein rationalistischer Geistlicher seinen Konfirmanden eine Schrift darbietet, in welcher er feine Auffassung der christlichen Wahrheit entwickelt. Aber daß er es Aeltern zumuthet, am Tage der Konfirmation ihren Kindern ein Buch zu überreichen, durch welches eine Kritik des kirchlichen Dogmas und der evan¬ gelischen Geschichte sich überall hindurchzieht; eine Kritik, über deren Werth oder Unwerth diese Kinder zu urtheilen durchaus unfähig sind, das können wir nur eine pädagogische Taktlosigkeit nennen. Und wir sind sicher, in diesem *) Doch geben wir gerne zu, daß der Verfasser hier und da versucht hat, dieser beiden unveräußerlichen Grundlagen einer von dem christlichen Bewußtsein geforderten und biblisch begründeten Christus-Anschauung sich zu bemächtigen, leider hat er aber die darauf hinfüh¬ renden Gedanken nicht zum befriedigenden Abschluß gebracht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/346>, abgerufen am 14.05.2024.