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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Selbständigkeit der Auffassung gebracht und blieben nicht in fortwährender
fast peinlicher Abhängigkeit von ihren Quellen. Dadurch, daß sie immer wieder
auf die einschlägigen Schriften verweisen und, was noch schlimmer ist, ganze
Sätze und Partieen aus ihnen aufnehmen und durch Striche als fremde kenn¬
zeichnen, erhält ihre Abhandlung ein gar zu buntscheckiges Aussehn. Sie hätten
überhaupt etwas mehr über der Sache stehen sollen, als es wirklich der Fall
ist. Bei besonders schwierigen Punkten, wie z. B. da, wo es sich um das
Verhältniß des Dramas zur Geschichte und um die Wirkung der Tragödie
handelt (x. OXI und VXIX), begnügen sie sich mit einem objektiven Referat
und erklären ausdrücklich, (so x. I^X, VXI Anm. OXIX), sie wollten nur den
Inhalt darstellen nicht aber darüber reflektiren, dies müsse dramatischen Werken
über Lessings dramaturgische Thätigkeit vorbehalten beiden. Nicht doch. Wer
einen Kommentar zu einem Werke schreibt, hat dasselbe nach allen Seiten hin
zu beurtheilen, hat sich über seinen relativen und seinen absoluten Werth zu
äußern, hat auch seine Mängel rückhaltlos aufzudecken. Das fühlen auch die
Verfasser selbst; im Kommentar S. 430, 438 ff. und sonst machen sie den
Versuch zu kritisiren, freilich wieder mehr mit fremden als mit eigenen Worten;
warum aber thaten sie es nicht da, wo es am nöthigsten war, in der zusammen¬
hängenden Betrachtung?

Auch an der Behandlung des Textes und an der Art der Anmerkungen
finde ich einiges auszusetzen. Die Verfasser legen zwar den Lachmann-Malt-
zahn'schen Text zu Gründe, ändern aber die alte Orthographie und die nach
ihrer Ansicht höchst eigenartige und zu üppige Interpunktion Lessings, und
zwar aus dem Grunde, weil die Ausgabe auch für Schüler berechnet sei. Die
Thatsache ist befremdlich, der Grund ist es noch mehr. An welche Schüler
haben sie denn gedacht? Doch wohl an Primaner, denn nur diesen wird man
die Dramaturgie in die Hände geben. Und die sollten Alterthümliches und
Eigenartiges in Schreibweise und Zeichensetzung nicht würdigen, nicht ohne
Schaden lesen können? Ich verstehe das nicht. Auch ist es längst bekannt,
welch wichtige Rolle gerade die Interpunktion bei Lessing spielt. David Strauß
hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, Blümner ist sich seiner vortrefflichen
Laokoonausgabe dessen Wohl bewußt gewesen, und erst jüngst hat Emil Grosse
in einer Besprechung des BlüMner'schen Buches (Wissenschaft. Monatsblätter
1877 Ur. 7) den wichtigen Punkt feinsinnig erörtert. Lessings Interpunktion
ist eben lessingisch, d. h. gedankenvoll, charakteristisch, man rühre sie also nicht
an, wenn man nicht Gefahr laufen will, dem Texte zu nahe zu treten.

Ein ähnliches Zugeständniß, nicht an die Schule, sondern an eine zu
niedere Bildungsstufe des Publikums, zeigt sich bisweilen auch in dem Cha¬
rakter der Anmerkungen. Mußte denn gesagt werden, wer Homer, wer Shake-


Selbständigkeit der Auffassung gebracht und blieben nicht in fortwährender
fast peinlicher Abhängigkeit von ihren Quellen. Dadurch, daß sie immer wieder
auf die einschlägigen Schriften verweisen und, was noch schlimmer ist, ganze
Sätze und Partieen aus ihnen aufnehmen und durch Striche als fremde kenn¬
zeichnen, erhält ihre Abhandlung ein gar zu buntscheckiges Aussehn. Sie hätten
überhaupt etwas mehr über der Sache stehen sollen, als es wirklich der Fall
ist. Bei besonders schwierigen Punkten, wie z. B. da, wo es sich um das
Verhältniß des Dramas zur Geschichte und um die Wirkung der Tragödie
handelt (x. OXI und VXIX), begnügen sie sich mit einem objektiven Referat
und erklären ausdrücklich, (so x. I^X, VXI Anm. OXIX), sie wollten nur den
Inhalt darstellen nicht aber darüber reflektiren, dies müsse dramatischen Werken
über Lessings dramaturgische Thätigkeit vorbehalten beiden. Nicht doch. Wer
einen Kommentar zu einem Werke schreibt, hat dasselbe nach allen Seiten hin
zu beurtheilen, hat sich über seinen relativen und seinen absoluten Werth zu
äußern, hat auch seine Mängel rückhaltlos aufzudecken. Das fühlen auch die
Verfasser selbst; im Kommentar S. 430, 438 ff. und sonst machen sie den
Versuch zu kritisiren, freilich wieder mehr mit fremden als mit eigenen Worten;
warum aber thaten sie es nicht da, wo es am nöthigsten war, in der zusammen¬
hängenden Betrachtung?

Auch an der Behandlung des Textes und an der Art der Anmerkungen
finde ich einiges auszusetzen. Die Verfasser legen zwar den Lachmann-Malt-
zahn'schen Text zu Gründe, ändern aber die alte Orthographie und die nach
ihrer Ansicht höchst eigenartige und zu üppige Interpunktion Lessings, und
zwar aus dem Grunde, weil die Ausgabe auch für Schüler berechnet sei. Die
Thatsache ist befremdlich, der Grund ist es noch mehr. An welche Schüler
haben sie denn gedacht? Doch wohl an Primaner, denn nur diesen wird man
die Dramaturgie in die Hände geben. Und die sollten Alterthümliches und
Eigenartiges in Schreibweise und Zeichensetzung nicht würdigen, nicht ohne
Schaden lesen können? Ich verstehe das nicht. Auch ist es längst bekannt,
welch wichtige Rolle gerade die Interpunktion bei Lessing spielt. David Strauß
hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, Blümner ist sich seiner vortrefflichen
Laokoonausgabe dessen Wohl bewußt gewesen, und erst jüngst hat Emil Grosse
in einer Besprechung des BlüMner'schen Buches (Wissenschaft. Monatsblätter
1877 Ur. 7) den wichtigen Punkt feinsinnig erörtert. Lessings Interpunktion
ist eben lessingisch, d. h. gedankenvoll, charakteristisch, man rühre sie also nicht
an, wenn man nicht Gefahr laufen will, dem Texte zu nahe zu treten.

Ein ähnliches Zugeständniß, nicht an die Schule, sondern an eine zu
niedere Bildungsstufe des Publikums, zeigt sich bisweilen auch in dem Cha¬
rakter der Anmerkungen. Mußte denn gesagt werden, wer Homer, wer Shake-


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[0362] Selbständigkeit der Auffassung gebracht und blieben nicht in fortwährender fast peinlicher Abhängigkeit von ihren Quellen. Dadurch, daß sie immer wieder auf die einschlägigen Schriften verweisen und, was noch schlimmer ist, ganze Sätze und Partieen aus ihnen aufnehmen und durch Striche als fremde kenn¬ zeichnen, erhält ihre Abhandlung ein gar zu buntscheckiges Aussehn. Sie hätten überhaupt etwas mehr über der Sache stehen sollen, als es wirklich der Fall ist. Bei besonders schwierigen Punkten, wie z. B. da, wo es sich um das Verhältniß des Dramas zur Geschichte und um die Wirkung der Tragödie handelt (x. OXI und VXIX), begnügen sie sich mit einem objektiven Referat und erklären ausdrücklich, (so x. I^X, VXI Anm. OXIX), sie wollten nur den Inhalt darstellen nicht aber darüber reflektiren, dies müsse dramatischen Werken über Lessings dramaturgische Thätigkeit vorbehalten beiden. Nicht doch. Wer einen Kommentar zu einem Werke schreibt, hat dasselbe nach allen Seiten hin zu beurtheilen, hat sich über seinen relativen und seinen absoluten Werth zu äußern, hat auch seine Mängel rückhaltlos aufzudecken. Das fühlen auch die Verfasser selbst; im Kommentar S. 430, 438 ff. und sonst machen sie den Versuch zu kritisiren, freilich wieder mehr mit fremden als mit eigenen Worten; warum aber thaten sie es nicht da, wo es am nöthigsten war, in der zusammen¬ hängenden Betrachtung? Auch an der Behandlung des Textes und an der Art der Anmerkungen finde ich einiges auszusetzen. Die Verfasser legen zwar den Lachmann-Malt- zahn'schen Text zu Gründe, ändern aber die alte Orthographie und die nach ihrer Ansicht höchst eigenartige und zu üppige Interpunktion Lessings, und zwar aus dem Grunde, weil die Ausgabe auch für Schüler berechnet sei. Die Thatsache ist befremdlich, der Grund ist es noch mehr. An welche Schüler haben sie denn gedacht? Doch wohl an Primaner, denn nur diesen wird man die Dramaturgie in die Hände geben. Und die sollten Alterthümliches und Eigenartiges in Schreibweise und Zeichensetzung nicht würdigen, nicht ohne Schaden lesen können? Ich verstehe das nicht. Auch ist es längst bekannt, welch wichtige Rolle gerade die Interpunktion bei Lessing spielt. David Strauß hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, Blümner ist sich seiner vortrefflichen Laokoonausgabe dessen Wohl bewußt gewesen, und erst jüngst hat Emil Grosse in einer Besprechung des BlüMner'schen Buches (Wissenschaft. Monatsblätter 1877 Ur. 7) den wichtigen Punkt feinsinnig erörtert. Lessings Interpunktion ist eben lessingisch, d. h. gedankenvoll, charakteristisch, man rühre sie also nicht an, wenn man nicht Gefahr laufen will, dem Texte zu nahe zu treten. Ein ähnliches Zugeständniß, nicht an die Schule, sondern an eine zu niedere Bildungsstufe des Publikums, zeigt sich bisweilen auch in dem Cha¬ rakter der Anmerkungen. Mußte denn gesagt werden, wer Homer, wer Shake-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/362>, abgerufen am 15.05.2024.