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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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getroffen ist, in der nummerreichen Abtheilung der "heiteren Laune in allerlei
Gestalt" die unbestrittene Meisterschaft: Da haben wir das Heringslied, den
"letzten Ichthyosaurus" und die .Guanotragödie. Die "Historie von der Hy¬
perbel und Assymptote" schließt sich diesen würdig an:


"Der Zauber winkt -- die Feder tunkt,
Fährt über die weißen Poren
Und wunderbar im Scheitelpunkt
Ward die Hyperbel geboren ?c."

und welche Tiefe weiser Erfahrung spricht nicht das radikale Lied vom Vater
Zeus aus, der sich vom Vulkan die Stirne spalten läßt. Ur. 228: "Welch
ein Götterleben, hoch am Reck zu schweben" nach der Melodie des bekannten
Sehnsuchtswalzers ist ein würdiger Nachbar zu der unter der folgenden Num¬
mer gedruckten Polyglotte, die in 26 Verstonen den simplen deutschen Reim


"In des Waldes tiefsten Gründen
Ist ein großer Bär zu finden."

sicherlich zum Repertoirstück des singenden jungen Deutschland machen wird.
Der internationale Ton, den die erwähnte Polyglotte in so glücklicher Verbin¬
dung des klassisch-philologischen mit dem poetischen Element angeschlagen, wird
fortgesetzt nicht nur in der "antiken" Abtheilung, sondern auch in einer Anzahl
amerikanischer, englischer und schottischer Lieder, unter denen sich einige recht
niedliche, namentlich der Ringelreim: "l'M, ullis nlMöi-s" finden. -- Ich bin
nicht der Ansicht, daß aus der Aufnahme dieser westlichen Lieder dem Lieder¬
buche ein Vorwurf gemacht werden könne. Einige Rezensenten haben eine
Uebersetzung dieser musikalischen Spielereien verlangt: anerkannte, gelungene
Uebersetzungen giebt es für diese kleinen Allotria nicht, und ein einziger Mi߬
griff in der höchst schwierigen Wiedergabe ihrer eigenthümlichen Komik nähme
ihnen ihren ganzen originalen Reiz, vielleicht die Berechtigung ihres Platzes
und ihrer Aufnahme in die Sammlung. Das Englische dringt in immer
weitere Schichten des Bildung suchenden Volkes, in maßgebenden Kreisen denkt
man bereits an eine Beschränkung des altklassischer Bildungsmaterials und an
eine energischere Geltendmachung der neueren Sprachen. Durchschlagend aber
dürfte für das Recht der Aufnahme dieser Lieder sein, daß das Büchlein durch¬
aus nicht ausschließlich für Gymnasiasten bestimmt ist, sondern auch für "Schüler
höherer Lehranstalten" und "Studentenkreise", wie S. X. besagt. Darum
glaube ich auch den Hauptmangel der Sammlung gleich vorn auf dem ersten
Blatte zu finden: ich meine nicht die ansprechende Titelvignette des Professors
H. Bürkner, die ebenso anmuthet als Ludwig Richters einfach kräftige Striche
in seinem verwandten: "Der Herr Professor hält heut kein Kollegium," sondern
die Ausschließlichkeit des Titels: ein Liederbuch für Gymnasiasten.
Warum nicht ein Liederbuch für höhere Schulen?


or--n.
L--v.


getroffen ist, in der nummerreichen Abtheilung der „heiteren Laune in allerlei
Gestalt" die unbestrittene Meisterschaft: Da haben wir das Heringslied, den
„letzten Ichthyosaurus" und die .Guanotragödie. Die „Historie von der Hy¬
perbel und Assymptote" schließt sich diesen würdig an:


„Der Zauber winkt — die Feder tunkt,
Fährt über die weißen Poren
Und wunderbar im Scheitelpunkt
Ward die Hyperbel geboren ?c."

und welche Tiefe weiser Erfahrung spricht nicht das radikale Lied vom Vater
Zeus aus, der sich vom Vulkan die Stirne spalten läßt. Ur. 228: „Welch
ein Götterleben, hoch am Reck zu schweben" nach der Melodie des bekannten
Sehnsuchtswalzers ist ein würdiger Nachbar zu der unter der folgenden Num¬
mer gedruckten Polyglotte, die in 26 Verstonen den simplen deutschen Reim


„In des Waldes tiefsten Gründen
Ist ein großer Bär zu finden."

sicherlich zum Repertoirstück des singenden jungen Deutschland machen wird.
Der internationale Ton, den die erwähnte Polyglotte in so glücklicher Verbin¬
dung des klassisch-philologischen mit dem poetischen Element angeschlagen, wird
fortgesetzt nicht nur in der „antiken" Abtheilung, sondern auch in einer Anzahl
amerikanischer, englischer und schottischer Lieder, unter denen sich einige recht
niedliche, namentlich der Ringelreim: „l'M, ullis nlMöi-s" finden. — Ich bin
nicht der Ansicht, daß aus der Aufnahme dieser westlichen Lieder dem Lieder¬
buche ein Vorwurf gemacht werden könne. Einige Rezensenten haben eine
Uebersetzung dieser musikalischen Spielereien verlangt: anerkannte, gelungene
Uebersetzungen giebt es für diese kleinen Allotria nicht, und ein einziger Mi߬
griff in der höchst schwierigen Wiedergabe ihrer eigenthümlichen Komik nähme
ihnen ihren ganzen originalen Reiz, vielleicht die Berechtigung ihres Platzes
und ihrer Aufnahme in die Sammlung. Das Englische dringt in immer
weitere Schichten des Bildung suchenden Volkes, in maßgebenden Kreisen denkt
man bereits an eine Beschränkung des altklassischer Bildungsmaterials und an
eine energischere Geltendmachung der neueren Sprachen. Durchschlagend aber
dürfte für das Recht der Aufnahme dieser Lieder sein, daß das Büchlein durch¬
aus nicht ausschließlich für Gymnasiasten bestimmt ist, sondern auch für „Schüler
höherer Lehranstalten" und „Studentenkreise", wie S. X. besagt. Darum
glaube ich auch den Hauptmangel der Sammlung gleich vorn auf dem ersten
Blatte zu finden: ich meine nicht die ansprechende Titelvignette des Professors
H. Bürkner, die ebenso anmuthet als Ludwig Richters einfach kräftige Striche
in seinem verwandten: „Der Herr Professor hält heut kein Kollegium," sondern
die Ausschließlichkeit des Titels: ein Liederbuch für Gymnasiasten.
Warum nicht ein Liederbuch für höhere Schulen?


or—n.
L—v.


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[0366] getroffen ist, in der nummerreichen Abtheilung der „heiteren Laune in allerlei Gestalt" die unbestrittene Meisterschaft: Da haben wir das Heringslied, den „letzten Ichthyosaurus" und die .Guanotragödie. Die „Historie von der Hy¬ perbel und Assymptote" schließt sich diesen würdig an: „Der Zauber winkt — die Feder tunkt, Fährt über die weißen Poren Und wunderbar im Scheitelpunkt Ward die Hyperbel geboren ?c." und welche Tiefe weiser Erfahrung spricht nicht das radikale Lied vom Vater Zeus aus, der sich vom Vulkan die Stirne spalten läßt. Ur. 228: „Welch ein Götterleben, hoch am Reck zu schweben" nach der Melodie des bekannten Sehnsuchtswalzers ist ein würdiger Nachbar zu der unter der folgenden Num¬ mer gedruckten Polyglotte, die in 26 Verstonen den simplen deutschen Reim „In des Waldes tiefsten Gründen Ist ein großer Bär zu finden." sicherlich zum Repertoirstück des singenden jungen Deutschland machen wird. Der internationale Ton, den die erwähnte Polyglotte in so glücklicher Verbin¬ dung des klassisch-philologischen mit dem poetischen Element angeschlagen, wird fortgesetzt nicht nur in der „antiken" Abtheilung, sondern auch in einer Anzahl amerikanischer, englischer und schottischer Lieder, unter denen sich einige recht niedliche, namentlich der Ringelreim: „l'M, ullis nlMöi-s" finden. — Ich bin nicht der Ansicht, daß aus der Aufnahme dieser westlichen Lieder dem Lieder¬ buche ein Vorwurf gemacht werden könne. Einige Rezensenten haben eine Uebersetzung dieser musikalischen Spielereien verlangt: anerkannte, gelungene Uebersetzungen giebt es für diese kleinen Allotria nicht, und ein einziger Mi߬ griff in der höchst schwierigen Wiedergabe ihrer eigenthümlichen Komik nähme ihnen ihren ganzen originalen Reiz, vielleicht die Berechtigung ihres Platzes und ihrer Aufnahme in die Sammlung. Das Englische dringt in immer weitere Schichten des Bildung suchenden Volkes, in maßgebenden Kreisen denkt man bereits an eine Beschränkung des altklassischer Bildungsmaterials und an eine energischere Geltendmachung der neueren Sprachen. Durchschlagend aber dürfte für das Recht der Aufnahme dieser Lieder sein, daß das Büchlein durch¬ aus nicht ausschließlich für Gymnasiasten bestimmt ist, sondern auch für „Schüler höherer Lehranstalten" und „Studentenkreise", wie S. X. besagt. Darum glaube ich auch den Hauptmangel der Sammlung gleich vorn auf dem ersten Blatte zu finden: ich meine nicht die ansprechende Titelvignette des Professors H. Bürkner, die ebenso anmuthet als Ludwig Richters einfach kräftige Striche in seinem verwandten: „Der Herr Professor hält heut kein Kollegium," sondern die Ausschließlichkeit des Titels: ein Liederbuch für Gymnasiasten. Warum nicht ein Liederbuch für höhere Schulen? or—n. L—v.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/366>, abgerufen am 15.05.2024.