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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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mischen Einheitsgedankens der natürliche Verbündete sei und zudem uneigen¬
nütziger, als Frankreich jemals gewesen und werden konnte. Die Ereignisse
seit 1866 haben diese Voraussicht bestätigt. Und wenn ein Scherzwort des
großen deutschen fortschrittlichen Witzblattes aus jenen Tagen: "Was ist grö¬
ßer, Napoleon's Glück oder Napoleon's Genie? - - Garibaldi" -- in den Au¬
gen der Jetztlebenden, wie das Meiste, was auf diesem Boden gewachsen,
nur eine mäßige politische Einsicht bekundet, so ist es doch charakteristisch für
jene Zeit, da auch der ehrsame Philister um der Spree sich beeilte, jene Flüche
von seinem schuldlosen Haupte abzuwenden, die jenseits der Alpen auf die
Tedeschi gehäuft wurden.

Je näher beide Nationen der Vollendung ihres nationalen Staates ge¬
kommen sind, um so inniger ist ihr gemeinsames Streben, die überraschende
Aehnlichkeit der nationalen Aufgaben und Erfolge geworden. Unser Sieg bei
Sedan hat Italien seine Hauptstadt gegeben. So zu .sagen Schulter an Schul¬
ter haben wir den Kulturkampf gekämpft. Als bezeichnendstes äußerliches
Sinnbild des von beiden Nationen Gewollten und Erreichten darf jene Zu¬
sammenkunft des einstigen Königs von Piemont mit dem einstigen Prinz-Re¬
genten von Preußen in Berlin gelten, der Besuch des Kaisers von Deutsch¬
land bei dem König von Italien in Mailand; wenn man will ferner auch
jeuer vielbesprochene Kuß, den der deutsche Kronprinz nach dein Tode des
ZÄlÄQtv.om0 vor dem versammelten Volke zu Rom auf Mund und Stirn
des italienischen Thronerben drückte; und vor Allem die Ovationen, die den
Präsidenten des Preußischen und Italienischen Abgeordnetenhauses, jenem in
Rom, diesem in Berlin gebracht wurden.

Es erscheint befremdend, daß bei so lebhaften fast durch zwei Jahrzehnte
sich gleichbleibenden, ja steigenden Anzeichen politischer Sympathie und In¬
teressengemeinschaft unser Volk bisher so wenig Notiz und Kenntniß genommen
.hat von der schönen Literatur der Italiener aus derselben Zeit. Aber freilich
der Tadel, der in diesen Worten liegen könnte, wird sehr verringert, wenn
wir uns über diese italienische Literatur näher zu orientiren in der Lage sind.
Der größte Theil derselben rechtfertigt vollkommen die böse Ahnung, welche
die große Mehrzahl unsres Volkes abhält, sich eingehender mit denselben zu
beschäftigen. Blinde Nachahmung französischer Vorbilder, übertrieben in allen
Auswüchsen und im Raffinement der Mache, herrscht bei Weitem vor. Man scheint
die Dankbarkeit für das französische Bündniß von 1859 und die blinde An¬
erkennung für das xrsstiKs des Volkes, welches solange behauptete, an der
Spitze der Civilisation zu marschiren, anf diese Weise in Italien haben ab¬
tragen zu wollen. Neben diesen unselbständigen Geistern Italiens aber giebt
es andere, die mit einem Auge rückwärts schauen auf jene mustergiltigen


mischen Einheitsgedankens der natürliche Verbündete sei und zudem uneigen¬
nütziger, als Frankreich jemals gewesen und werden konnte. Die Ereignisse
seit 1866 haben diese Voraussicht bestätigt. Und wenn ein Scherzwort des
großen deutschen fortschrittlichen Witzblattes aus jenen Tagen: „Was ist grö¬
ßer, Napoleon's Glück oder Napoleon's Genie? - - Garibaldi" — in den Au¬
gen der Jetztlebenden, wie das Meiste, was auf diesem Boden gewachsen,
nur eine mäßige politische Einsicht bekundet, so ist es doch charakteristisch für
jene Zeit, da auch der ehrsame Philister um der Spree sich beeilte, jene Flüche
von seinem schuldlosen Haupte abzuwenden, die jenseits der Alpen auf die
Tedeschi gehäuft wurden.

Je näher beide Nationen der Vollendung ihres nationalen Staates ge¬
kommen sind, um so inniger ist ihr gemeinsames Streben, die überraschende
Aehnlichkeit der nationalen Aufgaben und Erfolge geworden. Unser Sieg bei
Sedan hat Italien seine Hauptstadt gegeben. So zu .sagen Schulter an Schul¬
ter haben wir den Kulturkampf gekämpft. Als bezeichnendstes äußerliches
Sinnbild des von beiden Nationen Gewollten und Erreichten darf jene Zu¬
sammenkunft des einstigen Königs von Piemont mit dem einstigen Prinz-Re¬
genten von Preußen in Berlin gelten, der Besuch des Kaisers von Deutsch¬
land bei dem König von Italien in Mailand; wenn man will ferner auch
jeuer vielbesprochene Kuß, den der deutsche Kronprinz nach dein Tode des
ZÄlÄQtv.om0 vor dem versammelten Volke zu Rom auf Mund und Stirn
des italienischen Thronerben drückte; und vor Allem die Ovationen, die den
Präsidenten des Preußischen und Italienischen Abgeordnetenhauses, jenem in
Rom, diesem in Berlin gebracht wurden.

Es erscheint befremdend, daß bei so lebhaften fast durch zwei Jahrzehnte
sich gleichbleibenden, ja steigenden Anzeichen politischer Sympathie und In¬
teressengemeinschaft unser Volk bisher so wenig Notiz und Kenntniß genommen
.hat von der schönen Literatur der Italiener aus derselben Zeit. Aber freilich
der Tadel, der in diesen Worten liegen könnte, wird sehr verringert, wenn
wir uns über diese italienische Literatur näher zu orientiren in der Lage sind.
Der größte Theil derselben rechtfertigt vollkommen die böse Ahnung, welche
die große Mehrzahl unsres Volkes abhält, sich eingehender mit denselben zu
beschäftigen. Blinde Nachahmung französischer Vorbilder, übertrieben in allen
Auswüchsen und im Raffinement der Mache, herrscht bei Weitem vor. Man scheint
die Dankbarkeit für das französische Bündniß von 1859 und die blinde An¬
erkennung für das xrsstiKs des Volkes, welches solange behauptete, an der
Spitze der Civilisation zu marschiren, anf diese Weise in Italien haben ab¬
tragen zu wollen. Neben diesen unselbständigen Geistern Italiens aber giebt
es andere, die mit einem Auge rückwärts schauen auf jene mustergiltigen


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[0435] mischen Einheitsgedankens der natürliche Verbündete sei und zudem uneigen¬ nütziger, als Frankreich jemals gewesen und werden konnte. Die Ereignisse seit 1866 haben diese Voraussicht bestätigt. Und wenn ein Scherzwort des großen deutschen fortschrittlichen Witzblattes aus jenen Tagen: „Was ist grö¬ ßer, Napoleon's Glück oder Napoleon's Genie? - - Garibaldi" — in den Au¬ gen der Jetztlebenden, wie das Meiste, was auf diesem Boden gewachsen, nur eine mäßige politische Einsicht bekundet, so ist es doch charakteristisch für jene Zeit, da auch der ehrsame Philister um der Spree sich beeilte, jene Flüche von seinem schuldlosen Haupte abzuwenden, die jenseits der Alpen auf die Tedeschi gehäuft wurden. Je näher beide Nationen der Vollendung ihres nationalen Staates ge¬ kommen sind, um so inniger ist ihr gemeinsames Streben, die überraschende Aehnlichkeit der nationalen Aufgaben und Erfolge geworden. Unser Sieg bei Sedan hat Italien seine Hauptstadt gegeben. So zu .sagen Schulter an Schul¬ ter haben wir den Kulturkampf gekämpft. Als bezeichnendstes äußerliches Sinnbild des von beiden Nationen Gewollten und Erreichten darf jene Zu¬ sammenkunft des einstigen Königs von Piemont mit dem einstigen Prinz-Re¬ genten von Preußen in Berlin gelten, der Besuch des Kaisers von Deutsch¬ land bei dem König von Italien in Mailand; wenn man will ferner auch jeuer vielbesprochene Kuß, den der deutsche Kronprinz nach dein Tode des ZÄlÄQtv.om0 vor dem versammelten Volke zu Rom auf Mund und Stirn des italienischen Thronerben drückte; und vor Allem die Ovationen, die den Präsidenten des Preußischen und Italienischen Abgeordnetenhauses, jenem in Rom, diesem in Berlin gebracht wurden. Es erscheint befremdend, daß bei so lebhaften fast durch zwei Jahrzehnte sich gleichbleibenden, ja steigenden Anzeichen politischer Sympathie und In¬ teressengemeinschaft unser Volk bisher so wenig Notiz und Kenntniß genommen .hat von der schönen Literatur der Italiener aus derselben Zeit. Aber freilich der Tadel, der in diesen Worten liegen könnte, wird sehr verringert, wenn wir uns über diese italienische Literatur näher zu orientiren in der Lage sind. Der größte Theil derselben rechtfertigt vollkommen die böse Ahnung, welche die große Mehrzahl unsres Volkes abhält, sich eingehender mit denselben zu beschäftigen. Blinde Nachahmung französischer Vorbilder, übertrieben in allen Auswüchsen und im Raffinement der Mache, herrscht bei Weitem vor. Man scheint die Dankbarkeit für das französische Bündniß von 1859 und die blinde An¬ erkennung für das xrsstiKs des Volkes, welches solange behauptete, an der Spitze der Civilisation zu marschiren, anf diese Weise in Italien haben ab¬ tragen zu wollen. Neben diesen unselbständigen Geistern Italiens aber giebt es andere, die mit einem Auge rückwärts schauen auf jene mustergiltigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/435>, abgerufen am 14.05.2024.