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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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nüchterne Patriot, der mit keiner Zeile und keinem Wort die Sünde schön
findet, sondern immer nur die Tugend, als unwillkommener Beichtvater bei
Seite geschoben wurde. Hatte doch selbst der größte Schriftsteller, den die
italienische Literatur überhaupt aufzuweisen hat, Machiavelli, in seinem Pri¬
vatleben, wie in seinen Schriften den lasterhaften Gewohnheiten der Männer
seiner Zeit ohne Schen gefröhut. Seine frivolen Lustspiele waren die Lieb¬
linge des liederlichen Papstes. Seine "kleine Novelle" verspottet zwar die
Prunksucht und Verschwendung der Damen seiner Tage. Aber sie beweist uns
auch, daß der Teufel selbst ohnmächtig gegen diese Unsitte war.

Der andre Grund der an sich auffallenden Ungerechtigkeit der Italiener
gegen einen ihrer bedeutendsten modernen Schriftsteller, ist von Heyse wohl
richtig angedeutet. Nievo hat niemals versucht, sich bei seinen historischen
Romanen den Schein gelehrter historischer Forschung zu geben. Thatsächlich
beherrscht er das historische Material, das er vorführt, wie kein Andrer vor
ihm und uach ihm. Die venezianischen Dramen Lord Byrons z. B. ^ so
ehrfurchtsvoll auch Nievo an eiuer Stelle seines ersten Romans darüber spricht
- sind rhetorische Schattenspiele im Vergleich zu dem köstlichen Realismus,
den jede Zeile der venezianischen Romane Nievo's bietet. Alles hat sich bei
ihm vereinigt, um ihn zu befähigen, das Venedig vor etwa hundert bis vor
etwa sechzig Jahren so zu schildern, als sei er selbst damals im goldenen
Buche der Meerkönigin eingetragen gewesen: Familientraditionen, vielleicht
Tagebücher aus der Großväterzeit, eigene, gründliche Kenntniß des Ortes,
der Sitten, geschichtliche, philosophische und vor Allem rechtsgeschichtliche
Studien. Das juristische Element in Nievo's Darstellung ist auch von Heyse
nicht genügend gewürdigt. Es gab dem Dichter die größte Klarheit und
Sicherheit in der Zeichnung des Grundrisses jenes längst zusammengebrochenen
Staatsgebäudes. An der Hand der genanen Kenntniß der venezianischen Staats¬
verfassung stieg der ganze vierzehnhnndertjährige Ban der hohen Signoria
leibhaftig wieder vor ihm auf; die Formiani und Frnmier und alle die an¬
dern edeln Geschlechter, die er uns handelnd darstellt, schälkelen wie Menschen
von Fleisch und Blut, nicht wie gespensterhafte Schatten in den Marmvr-
palästeu am großen Kanal. Doch keine Zeile des bescheidenen Dichters ver¬
räth den Stolz des Gelehrten, dem es gelungen, nach harter Arbeit sprödes
Material zu bändigen, tausend unscheinbare Quellen zu einem tiefen, glänzen¬
den Strom zu vereinigen. Außerdem hat auch niemals ruhmredige Reklame
-- die Nievo bei seiner Verbindung mit der Presse seiner Zeit gewiß unschwer
hätte gewinnen können, -- dafür gesorgt, den "gebildeten Leserkreisen" von da¬
mals zu versichern, daß man nothwendig Nievo's venezianische Romane gele-


nüchterne Patriot, der mit keiner Zeile und keinem Wort die Sünde schön
findet, sondern immer nur die Tugend, als unwillkommener Beichtvater bei
Seite geschoben wurde. Hatte doch selbst der größte Schriftsteller, den die
italienische Literatur überhaupt aufzuweisen hat, Machiavelli, in seinem Pri¬
vatleben, wie in seinen Schriften den lasterhaften Gewohnheiten der Männer
seiner Zeit ohne Schen gefröhut. Seine frivolen Lustspiele waren die Lieb¬
linge des liederlichen Papstes. Seine „kleine Novelle" verspottet zwar die
Prunksucht und Verschwendung der Damen seiner Tage. Aber sie beweist uns
auch, daß der Teufel selbst ohnmächtig gegen diese Unsitte war.

Der andre Grund der an sich auffallenden Ungerechtigkeit der Italiener
gegen einen ihrer bedeutendsten modernen Schriftsteller, ist von Heyse wohl
richtig angedeutet. Nievo hat niemals versucht, sich bei seinen historischen
Romanen den Schein gelehrter historischer Forschung zu geben. Thatsächlich
beherrscht er das historische Material, das er vorführt, wie kein Andrer vor
ihm und uach ihm. Die venezianischen Dramen Lord Byrons z. B. ^ so
ehrfurchtsvoll auch Nievo an eiuer Stelle seines ersten Romans darüber spricht
- sind rhetorische Schattenspiele im Vergleich zu dem köstlichen Realismus,
den jede Zeile der venezianischen Romane Nievo's bietet. Alles hat sich bei
ihm vereinigt, um ihn zu befähigen, das Venedig vor etwa hundert bis vor
etwa sechzig Jahren so zu schildern, als sei er selbst damals im goldenen
Buche der Meerkönigin eingetragen gewesen: Familientraditionen, vielleicht
Tagebücher aus der Großväterzeit, eigene, gründliche Kenntniß des Ortes,
der Sitten, geschichtliche, philosophische und vor Allem rechtsgeschichtliche
Studien. Das juristische Element in Nievo's Darstellung ist auch von Heyse
nicht genügend gewürdigt. Es gab dem Dichter die größte Klarheit und
Sicherheit in der Zeichnung des Grundrisses jenes längst zusammengebrochenen
Staatsgebäudes. An der Hand der genanen Kenntniß der venezianischen Staats¬
verfassung stieg der ganze vierzehnhnndertjährige Ban der hohen Signoria
leibhaftig wieder vor ihm auf; die Formiani und Frnmier und alle die an¬
dern edeln Geschlechter, die er uns handelnd darstellt, schälkelen wie Menschen
von Fleisch und Blut, nicht wie gespensterhafte Schatten in den Marmvr-
palästeu am großen Kanal. Doch keine Zeile des bescheidenen Dichters ver¬
räth den Stolz des Gelehrten, dem es gelungen, nach harter Arbeit sprödes
Material zu bändigen, tausend unscheinbare Quellen zu einem tiefen, glänzen¬
den Strom zu vereinigen. Außerdem hat auch niemals ruhmredige Reklame
— die Nievo bei seiner Verbindung mit der Presse seiner Zeit gewiß unschwer
hätte gewinnen können, — dafür gesorgt, den „gebildeten Leserkreisen" von da¬
mals zu versichern, daß man nothwendig Nievo's venezianische Romane gele-


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[0442] nüchterne Patriot, der mit keiner Zeile und keinem Wort die Sünde schön findet, sondern immer nur die Tugend, als unwillkommener Beichtvater bei Seite geschoben wurde. Hatte doch selbst der größte Schriftsteller, den die italienische Literatur überhaupt aufzuweisen hat, Machiavelli, in seinem Pri¬ vatleben, wie in seinen Schriften den lasterhaften Gewohnheiten der Männer seiner Zeit ohne Schen gefröhut. Seine frivolen Lustspiele waren die Lieb¬ linge des liederlichen Papstes. Seine „kleine Novelle" verspottet zwar die Prunksucht und Verschwendung der Damen seiner Tage. Aber sie beweist uns auch, daß der Teufel selbst ohnmächtig gegen diese Unsitte war. Der andre Grund der an sich auffallenden Ungerechtigkeit der Italiener gegen einen ihrer bedeutendsten modernen Schriftsteller, ist von Heyse wohl richtig angedeutet. Nievo hat niemals versucht, sich bei seinen historischen Romanen den Schein gelehrter historischer Forschung zu geben. Thatsächlich beherrscht er das historische Material, das er vorführt, wie kein Andrer vor ihm und uach ihm. Die venezianischen Dramen Lord Byrons z. B. ^ so ehrfurchtsvoll auch Nievo an eiuer Stelle seines ersten Romans darüber spricht - sind rhetorische Schattenspiele im Vergleich zu dem köstlichen Realismus, den jede Zeile der venezianischen Romane Nievo's bietet. Alles hat sich bei ihm vereinigt, um ihn zu befähigen, das Venedig vor etwa hundert bis vor etwa sechzig Jahren so zu schildern, als sei er selbst damals im goldenen Buche der Meerkönigin eingetragen gewesen: Familientraditionen, vielleicht Tagebücher aus der Großväterzeit, eigene, gründliche Kenntniß des Ortes, der Sitten, geschichtliche, philosophische und vor Allem rechtsgeschichtliche Studien. Das juristische Element in Nievo's Darstellung ist auch von Heyse nicht genügend gewürdigt. Es gab dem Dichter die größte Klarheit und Sicherheit in der Zeichnung des Grundrisses jenes längst zusammengebrochenen Staatsgebäudes. An der Hand der genanen Kenntniß der venezianischen Staats¬ verfassung stieg der ganze vierzehnhnndertjährige Ban der hohen Signoria leibhaftig wieder vor ihm auf; die Formiani und Frnmier und alle die an¬ dern edeln Geschlechter, die er uns handelnd darstellt, schälkelen wie Menschen von Fleisch und Blut, nicht wie gespensterhafte Schatten in den Marmvr- palästeu am großen Kanal. Doch keine Zeile des bescheidenen Dichters ver¬ räth den Stolz des Gelehrten, dem es gelungen, nach harter Arbeit sprödes Material zu bändigen, tausend unscheinbare Quellen zu einem tiefen, glänzen¬ den Strom zu vereinigen. Außerdem hat auch niemals ruhmredige Reklame — die Nievo bei seiner Verbindung mit der Presse seiner Zeit gewiß unschwer hätte gewinnen können, — dafür gesorgt, den „gebildeten Leserkreisen" von da¬ mals zu versichern, daß man nothwendig Nievo's venezianische Romane gele-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/442>, abgerufen am 15.05.2024.