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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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Arbeiter ihre unmündigen Kinder zum "Frohn- und Sklavendienst" in den
Fabriken heranschleppen. Ueberhaupt bieten die Arbeiterzustände dieses Bezirks
in den Jahresberichten der Fabrikinspektoren das düsterste und finsterste Bild.
Grauenerregend sind die Schilderungen von der Verrohung und Verrottnng
der dortigen Massen, von der gänzlichen Verwahrlosung der Jugend, von dem
Kost- und Quartiergängerwesen, das scheuseliger Unzucht einen bequemen Platz
bietet am Herd der Familie. Und mit diesen sittlichen Schäden geht Hand in
Hand eine geistige Dumpfheit und Stumpfheit, die gleichfalls in den Berichten
sonder Beispiel ist. Während die andern Fabrikinspektoren doch mehr oder
weniger von wachsendem oder mindestens erwachenden Interesse der Arbeiter
an ihrer Thätigkeit zu erzählen wissen, schließt Dr. Wolff seine mit größter
Sorgfalt ausgeführten und von wärmster Liebe zum Arbeiterstande durch¬
wehten Schilderungen mit den resignirten Worten: "Die Arbeiter selbst, deren
Wohl meine Thätigkeit zum größeren Theile gewidmet ist, verhielten sich mir
gegenüber bisher rein passiv." Dies ist eine Reihe von Thatsachen. Und nun
halte man eine andere dagegen! Der Regierungsbezirk Düsseldorf ist die
älteste Heimstätte der deutschen Sozialdemokratie; hier war Lassalle schon 1848
und 1849 Führer der Arbeitermassen; hier zählte er 1863 und 1864 seine
getreuesten und zahlreichsten Anhänger, über welche er die "glorreichen Heer¬
schauen" zu halten pflegte; hier errangen die Sozialdemokraten die ersten Wahl¬
siege und schon im norddeutschen Reichstage vertraten sie nicht weniger, wie
drei Kreise dieses Bezirks, während sie im ganzen übrigen Preußen auch nicht
einen einzigen Kreis erobert hatten; hier wurden Schweitzer, Reineke, Fritzsche,
Hasenclever, Hasselmann, Rittinghausen gewählt; hier musterte die Partei noch
bei den letzten Reichstagswahlen Zehntausende und abermals Zehntauseude
von Anhängern. Ein Kommentar ist überflüssig; aus den Thatsachen selbst quillt
ein blendendes und unheimliches Licht, sichtbar auch dem blödesten Auge.

Es ist hier nur in ganz flüchtigen und kargen Strichen der reiche Inhalt
jener Jahresberichte mehr angedeutet, als auch nur skizzirt. Ein tieferes Ein¬
gehen verbietet gleicher Weise die Rücksicht auf den zugemessenen Raum, wie
auf den geneigten Leser, dessen Lust, selbst aus dieser Quelle Belehrung und
Erkenntniß zu schöpfen, nur geweckt, nicht befriedigt werden soll. Wünschens¬
wert!) bleibt unter allen Umständen, daß sich die öffentliche Diskussion gerade über
die Arbeiterfragen von den nebelhaft zerfließenden Schemen grauer Theorien
mehr den thatsächlichen Zuständen des wirklichen Lebens zuwendet, eins an
dem andern berichtigt und ergänzt. Die Berichte der preußischen Fabrikin¬
spektoren bieten dazu einen dankenswerthen und vielversprechenden Anfang.
Und wie viel trübe Einblicke sie eröffnen in vielfach noch so trostlose Verhält-


Arbeiter ihre unmündigen Kinder zum „Frohn- und Sklavendienst" in den
Fabriken heranschleppen. Ueberhaupt bieten die Arbeiterzustände dieses Bezirks
in den Jahresberichten der Fabrikinspektoren das düsterste und finsterste Bild.
Grauenerregend sind die Schilderungen von der Verrohung und Verrottnng
der dortigen Massen, von der gänzlichen Verwahrlosung der Jugend, von dem
Kost- und Quartiergängerwesen, das scheuseliger Unzucht einen bequemen Platz
bietet am Herd der Familie. Und mit diesen sittlichen Schäden geht Hand in
Hand eine geistige Dumpfheit und Stumpfheit, die gleichfalls in den Berichten
sonder Beispiel ist. Während die andern Fabrikinspektoren doch mehr oder
weniger von wachsendem oder mindestens erwachenden Interesse der Arbeiter
an ihrer Thätigkeit zu erzählen wissen, schließt Dr. Wolff seine mit größter
Sorgfalt ausgeführten und von wärmster Liebe zum Arbeiterstande durch¬
wehten Schilderungen mit den resignirten Worten: „Die Arbeiter selbst, deren
Wohl meine Thätigkeit zum größeren Theile gewidmet ist, verhielten sich mir
gegenüber bisher rein passiv." Dies ist eine Reihe von Thatsachen. Und nun
halte man eine andere dagegen! Der Regierungsbezirk Düsseldorf ist die
älteste Heimstätte der deutschen Sozialdemokratie; hier war Lassalle schon 1848
und 1849 Führer der Arbeitermassen; hier zählte er 1863 und 1864 seine
getreuesten und zahlreichsten Anhänger, über welche er die „glorreichen Heer¬
schauen" zu halten pflegte; hier errangen die Sozialdemokraten die ersten Wahl¬
siege und schon im norddeutschen Reichstage vertraten sie nicht weniger, wie
drei Kreise dieses Bezirks, während sie im ganzen übrigen Preußen auch nicht
einen einzigen Kreis erobert hatten; hier wurden Schweitzer, Reineke, Fritzsche,
Hasenclever, Hasselmann, Rittinghausen gewählt; hier musterte die Partei noch
bei den letzten Reichstagswahlen Zehntausende und abermals Zehntauseude
von Anhängern. Ein Kommentar ist überflüssig; aus den Thatsachen selbst quillt
ein blendendes und unheimliches Licht, sichtbar auch dem blödesten Auge.

Es ist hier nur in ganz flüchtigen und kargen Strichen der reiche Inhalt
jener Jahresberichte mehr angedeutet, als auch nur skizzirt. Ein tieferes Ein¬
gehen verbietet gleicher Weise die Rücksicht auf den zugemessenen Raum, wie
auf den geneigten Leser, dessen Lust, selbst aus dieser Quelle Belehrung und
Erkenntniß zu schöpfen, nur geweckt, nicht befriedigt werden soll. Wünschens¬
wert!) bleibt unter allen Umständen, daß sich die öffentliche Diskussion gerade über
die Arbeiterfragen von den nebelhaft zerfließenden Schemen grauer Theorien
mehr den thatsächlichen Zuständen des wirklichen Lebens zuwendet, eins an
dem andern berichtigt und ergänzt. Die Berichte der preußischen Fabrikin¬
spektoren bieten dazu einen dankenswerthen und vielversprechenden Anfang.
Und wie viel trübe Einblicke sie eröffnen in vielfach noch so trostlose Verhält-


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[0470] Arbeiter ihre unmündigen Kinder zum „Frohn- und Sklavendienst" in den Fabriken heranschleppen. Ueberhaupt bieten die Arbeiterzustände dieses Bezirks in den Jahresberichten der Fabrikinspektoren das düsterste und finsterste Bild. Grauenerregend sind die Schilderungen von der Verrohung und Verrottnng der dortigen Massen, von der gänzlichen Verwahrlosung der Jugend, von dem Kost- und Quartiergängerwesen, das scheuseliger Unzucht einen bequemen Platz bietet am Herd der Familie. Und mit diesen sittlichen Schäden geht Hand in Hand eine geistige Dumpfheit und Stumpfheit, die gleichfalls in den Berichten sonder Beispiel ist. Während die andern Fabrikinspektoren doch mehr oder weniger von wachsendem oder mindestens erwachenden Interesse der Arbeiter an ihrer Thätigkeit zu erzählen wissen, schließt Dr. Wolff seine mit größter Sorgfalt ausgeführten und von wärmster Liebe zum Arbeiterstande durch¬ wehten Schilderungen mit den resignirten Worten: „Die Arbeiter selbst, deren Wohl meine Thätigkeit zum größeren Theile gewidmet ist, verhielten sich mir gegenüber bisher rein passiv." Dies ist eine Reihe von Thatsachen. Und nun halte man eine andere dagegen! Der Regierungsbezirk Düsseldorf ist die älteste Heimstätte der deutschen Sozialdemokratie; hier war Lassalle schon 1848 und 1849 Führer der Arbeitermassen; hier zählte er 1863 und 1864 seine getreuesten und zahlreichsten Anhänger, über welche er die „glorreichen Heer¬ schauen" zu halten pflegte; hier errangen die Sozialdemokraten die ersten Wahl¬ siege und schon im norddeutschen Reichstage vertraten sie nicht weniger, wie drei Kreise dieses Bezirks, während sie im ganzen übrigen Preußen auch nicht einen einzigen Kreis erobert hatten; hier wurden Schweitzer, Reineke, Fritzsche, Hasenclever, Hasselmann, Rittinghausen gewählt; hier musterte die Partei noch bei den letzten Reichstagswahlen Zehntausende und abermals Zehntauseude von Anhängern. Ein Kommentar ist überflüssig; aus den Thatsachen selbst quillt ein blendendes und unheimliches Licht, sichtbar auch dem blödesten Auge. Es ist hier nur in ganz flüchtigen und kargen Strichen der reiche Inhalt jener Jahresberichte mehr angedeutet, als auch nur skizzirt. Ein tieferes Ein¬ gehen verbietet gleicher Weise die Rücksicht auf den zugemessenen Raum, wie auf den geneigten Leser, dessen Lust, selbst aus dieser Quelle Belehrung und Erkenntniß zu schöpfen, nur geweckt, nicht befriedigt werden soll. Wünschens¬ wert!) bleibt unter allen Umständen, daß sich die öffentliche Diskussion gerade über die Arbeiterfragen von den nebelhaft zerfließenden Schemen grauer Theorien mehr den thatsächlichen Zuständen des wirklichen Lebens zuwendet, eins an dem andern berichtigt und ergänzt. Die Berichte der preußischen Fabrikin¬ spektoren bieten dazu einen dankenswerthen und vielversprechenden Anfang. Und wie viel trübe Einblicke sie eröffnen in vielfach noch so trostlose Verhält-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/470>, abgerufen am 15.05.2024.