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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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hinauflecke an dem reinen, edlen Ban idealer Geistesbildung, ihn zu verhüllen
in dem qualmenden Dunst keuchender Maschinen, stampfender Mörser. All' die
unzufriedenen Elemente sammelten sich auf dem in unseren Tagen so viel be¬
tretenen breiten Boden philanthropischer Fürsorge für leibliches und geistiges
Wohlbefinden, für Kurzsichtigkeit, Rückgratsverkrümmung, körperliche und Psychi¬
sche Erschlaffung. Für solche und ähnliche angeblich zahllose Leiden und Ge¬
brechen unserer studirenden Jugend wurde der Karlsruher Gymnasiumsdirektor
und das von ihm vertretene System verantwortlich gemacht. Bekanntlich hat
die im September v. I. in Nürnberg stattgehabte Generalversammlung des
"Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege" diese Klagen in cours¬
fähige Münze geprägt. Die dort gefaßten Beschlüsse lauten: "Das jetzige
Unterrichtssystem in den Schulen wirkt nach verschiedenen Seiten hin -- ins¬
besondere durch zu frühzeitige und gehäufte Anstrengungen des kindlichen Ge¬
hirns bei verhältnißmäßiger Niederhaltung der Muskelthätigkeit -- störend
auf die allgemeine Körperentwickelung, insbesondere auf das Sehorgan. 2. Es
erscheint daher erforderlich, mittelst einer Verminderung des Lehrstoffs die
tägliche Unterrichtszeit und die häuslichen Arbeiten zu beschränken, sowie eine
mehr harmonische Ausbildung, innerhalb welcher auch der Individualität ihr
Recht werden kann, zu erstreben." Ein recht unkluges Beginnen war es, in
Baden und speziell in Karlsruhe auf Grund dieser Beschlüsse in ostensibler
Weise unsere gegenwärtige Gymnasialbildung zum Gegenstand herausfordernder
Angriffe zu machen. Denn einestheils ist an unseren badischen gelehrten
Schulen für die Berücksichtigung der Gesundheit der Schuljugend die nach¬
drücklichste Fürsorge getroffen, und sodann konnte Dr. Wendt mit leichter
Mühe darthun, wie sowohl was die Zahl der Unterrichtsstunden, als die
Unterrichtsmethode anlangt eine Ueberbürdung der Schüler nicht stattfindet.
Einzelne Mißgriffe, wie sie auf allen Lebensgebieten gemacht werden, kommen
auch im Schulwesen vor. Allein das derzeitige System, der unser Schulwesen
durchwaltende Geist trägt uicht die Schuld daran. Uebelstände sind noch vor¬
handen, Abhilfe thut noch in einem und dem anderen Punkt noth. Aber ein
ernsteres, nachdrücklicheres Streben der Schule, das Richtige zu treffen, hat
gewiß noch keine Zeit wahrgenommen, als die, in welcher wir eben leben. Im
Zeitalter der Feuilletonliteratur und der öffentlichen populären Vorträge geht
der Zug nach möglichst mühelosem Erwerb des geistigen Besitzthums mächtig
durch alle Gesellschaftskreise. Man sollte aber wissen, daß nur das besessen
wird, was man ringend erworben hat, und daß nur ernste Arbeit, strenge
Geisteszucht Männer bildet, die fähig sind, ihres Volkes Führer zu sein.
Wohin aber vollends soll es kommen mit der Gesundheit unseres deutschen
Volkslebens, wenn Mißverstand und Uebelwollen jener weit verbreiteten Rich-


hinauflecke an dem reinen, edlen Ban idealer Geistesbildung, ihn zu verhüllen
in dem qualmenden Dunst keuchender Maschinen, stampfender Mörser. All' die
unzufriedenen Elemente sammelten sich auf dem in unseren Tagen so viel be¬
tretenen breiten Boden philanthropischer Fürsorge für leibliches und geistiges
Wohlbefinden, für Kurzsichtigkeit, Rückgratsverkrümmung, körperliche und Psychi¬
sche Erschlaffung. Für solche und ähnliche angeblich zahllose Leiden und Ge¬
brechen unserer studirenden Jugend wurde der Karlsruher Gymnasiumsdirektor
und das von ihm vertretene System verantwortlich gemacht. Bekanntlich hat
die im September v. I. in Nürnberg stattgehabte Generalversammlung des
„Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege" diese Klagen in cours¬
fähige Münze geprägt. Die dort gefaßten Beschlüsse lauten: „Das jetzige
Unterrichtssystem in den Schulen wirkt nach verschiedenen Seiten hin — ins¬
besondere durch zu frühzeitige und gehäufte Anstrengungen des kindlichen Ge¬
hirns bei verhältnißmäßiger Niederhaltung der Muskelthätigkeit — störend
auf die allgemeine Körperentwickelung, insbesondere auf das Sehorgan. 2. Es
erscheint daher erforderlich, mittelst einer Verminderung des Lehrstoffs die
tägliche Unterrichtszeit und die häuslichen Arbeiten zu beschränken, sowie eine
mehr harmonische Ausbildung, innerhalb welcher auch der Individualität ihr
Recht werden kann, zu erstreben." Ein recht unkluges Beginnen war es, in
Baden und speziell in Karlsruhe auf Grund dieser Beschlüsse in ostensibler
Weise unsere gegenwärtige Gymnasialbildung zum Gegenstand herausfordernder
Angriffe zu machen. Denn einestheils ist an unseren badischen gelehrten
Schulen für die Berücksichtigung der Gesundheit der Schuljugend die nach¬
drücklichste Fürsorge getroffen, und sodann konnte Dr. Wendt mit leichter
Mühe darthun, wie sowohl was die Zahl der Unterrichtsstunden, als die
Unterrichtsmethode anlangt eine Ueberbürdung der Schüler nicht stattfindet.
Einzelne Mißgriffe, wie sie auf allen Lebensgebieten gemacht werden, kommen
auch im Schulwesen vor. Allein das derzeitige System, der unser Schulwesen
durchwaltende Geist trägt uicht die Schuld daran. Uebelstände sind noch vor¬
handen, Abhilfe thut noch in einem und dem anderen Punkt noth. Aber ein
ernsteres, nachdrücklicheres Streben der Schule, das Richtige zu treffen, hat
gewiß noch keine Zeit wahrgenommen, als die, in welcher wir eben leben. Im
Zeitalter der Feuilletonliteratur und der öffentlichen populären Vorträge geht
der Zug nach möglichst mühelosem Erwerb des geistigen Besitzthums mächtig
durch alle Gesellschaftskreise. Man sollte aber wissen, daß nur das besessen
wird, was man ringend erworben hat, und daß nur ernste Arbeit, strenge
Geisteszucht Männer bildet, die fähig sind, ihres Volkes Führer zu sein.
Wohin aber vollends soll es kommen mit der Gesundheit unseres deutschen
Volkslebens, wenn Mißverstand und Uebelwollen jener weit verbreiteten Rich-


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[0519] hinauflecke an dem reinen, edlen Ban idealer Geistesbildung, ihn zu verhüllen in dem qualmenden Dunst keuchender Maschinen, stampfender Mörser. All' die unzufriedenen Elemente sammelten sich auf dem in unseren Tagen so viel be¬ tretenen breiten Boden philanthropischer Fürsorge für leibliches und geistiges Wohlbefinden, für Kurzsichtigkeit, Rückgratsverkrümmung, körperliche und Psychi¬ sche Erschlaffung. Für solche und ähnliche angeblich zahllose Leiden und Ge¬ brechen unserer studirenden Jugend wurde der Karlsruher Gymnasiumsdirektor und das von ihm vertretene System verantwortlich gemacht. Bekanntlich hat die im September v. I. in Nürnberg stattgehabte Generalversammlung des „Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege" diese Klagen in cours¬ fähige Münze geprägt. Die dort gefaßten Beschlüsse lauten: „Das jetzige Unterrichtssystem in den Schulen wirkt nach verschiedenen Seiten hin — ins¬ besondere durch zu frühzeitige und gehäufte Anstrengungen des kindlichen Ge¬ hirns bei verhältnißmäßiger Niederhaltung der Muskelthätigkeit — störend auf die allgemeine Körperentwickelung, insbesondere auf das Sehorgan. 2. Es erscheint daher erforderlich, mittelst einer Verminderung des Lehrstoffs die tägliche Unterrichtszeit und die häuslichen Arbeiten zu beschränken, sowie eine mehr harmonische Ausbildung, innerhalb welcher auch der Individualität ihr Recht werden kann, zu erstreben." Ein recht unkluges Beginnen war es, in Baden und speziell in Karlsruhe auf Grund dieser Beschlüsse in ostensibler Weise unsere gegenwärtige Gymnasialbildung zum Gegenstand herausfordernder Angriffe zu machen. Denn einestheils ist an unseren badischen gelehrten Schulen für die Berücksichtigung der Gesundheit der Schuljugend die nach¬ drücklichste Fürsorge getroffen, und sodann konnte Dr. Wendt mit leichter Mühe darthun, wie sowohl was die Zahl der Unterrichtsstunden, als die Unterrichtsmethode anlangt eine Ueberbürdung der Schüler nicht stattfindet. Einzelne Mißgriffe, wie sie auf allen Lebensgebieten gemacht werden, kommen auch im Schulwesen vor. Allein das derzeitige System, der unser Schulwesen durchwaltende Geist trägt uicht die Schuld daran. Uebelstände sind noch vor¬ handen, Abhilfe thut noch in einem und dem anderen Punkt noth. Aber ein ernsteres, nachdrücklicheres Streben der Schule, das Richtige zu treffen, hat gewiß noch keine Zeit wahrgenommen, als die, in welcher wir eben leben. Im Zeitalter der Feuilletonliteratur und der öffentlichen populären Vorträge geht der Zug nach möglichst mühelosem Erwerb des geistigen Besitzthums mächtig durch alle Gesellschaftskreise. Man sollte aber wissen, daß nur das besessen wird, was man ringend erworben hat, und daß nur ernste Arbeit, strenge Geisteszucht Männer bildet, die fähig sind, ihres Volkes Führer zu sein. Wohin aber vollends soll es kommen mit der Gesundheit unseres deutschen Volkslebens, wenn Mißverstand und Uebelwollen jener weit verbreiteten Rich-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/519>, abgerufen am 31.05.2024.