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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band.

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politischen Gebilden, auf die sie hier stießen, nichts rechtes anzufangen. In
die übliche Schablone wollten sie nicht passen, wohl oder übel glaubte aber
der konservative wie der liberale Geschichtschreiber, sie doch irgendwo unter¬
bringen zu müssen. So entstand denn die konventionelle Sage von dem roua-
listischen Edelmann, der mit seinem frommen Lehnsmann herbeieile zur Stütze
des wankenden Thrones, zur Rache des gemordeten Königthums -- ans kon¬
servativer Seite. Verschmitzte Junker und selbstsüchtige Pfaffen hetzten das
arme unwissende Volk, durch das Gold des Lcmdesseindes unterstützt, gegen seine
edelgesinnten liberalen Befreier, so stellte sich aus liberaler Seite die Sache
dar. Die fleißige und gewissenhafte Arbeit des Herrn Lescure zeigt nun, daß
diese beiden Auffassungen kaum etwas besseres sind, als von voreingenommenem
Parteistandpunkte aufgefaßte Zerrbilder, welche mit der historischen Wahrheit
ganz willkürlich umgingen. Lescure hat den einzig richtigen Weg ergriffen,
um ein Verständniß für Verhältnisse so eigenartiger Natur zu schaffen, wie
sie sonst in ganz Frankreich nicht wieder vorkommen. Er hat aus verschiedenen
Quellen eine Anzahl von Memoiren zusammengestellt, welche von den ver¬
schiedensten Parteien der damaligen Zeit herrühren und sich nothwendigerweise
gegenseitig ergänzen und berichtigen. Aus diese Weise erhält der Leser zuerst
ein richtiges Bild von Land und Leuten, und sieht nun, wie eben nur in
diesem Lande unter solchen Bewohnern ein so merkwürdiger Aufstand aus¬
brechen und mit ganz entschiedener Lebenskraft gegen eine gewaltige Uebermacht
lange Zeit sich behaupten konnte. In dieser Lebenskraft, die so lange, zum
Theil sogar siegreich, dem ganze" übrigen Frankreich gegenüber stand, liegt
aber der nnwiderlegliche Beweis, daß die Vendee eine innere sittliche Berech¬
tigung zu ihrem Widerstand besaß. Das eben war bisher der räthselhafte
Punkt. Auch der eifrigste Anhänger der monarchischen Regiernngsfrage muß,
wenn er sich durch Unkenntniß nicht lächerlich macheu will, zugeben, daß kein
Volk der Erde eine größere Berechtigung zur offnen gewaltsamen Revolution
besaß, als das französische in den Jahren von 1750--1789. Die Zustände,
welche Feudalismus und absolutes Königthum geschaffen hatten, waren geradezu
grauenerregend. Der Bauer und Bürger der kleinen Flecken, welche unter der
Herrschaft der Geistlichkeit und des Adels standen, und das waren fast Alle,
führte ein Leben, weit schlimmer, als die Thiere des Waldes, denn diese, selbst
die Wölfe, genossen zärtliche Berücksichtigung Seitens der Jagdherren. Ueber¬
mäßiger, dreifacher Steuerdruck, sür Staat, Kirche und Grundherren wurde
verzehnfacht durch das Institut der Steuerpächter. Ein feiler Richterstand
vernichtete die persönliche Sicherheit, durch die Einrichtung der heimlichen
Haftbefehle. So kam es, daß die verzweifelnden Fröhner ihr verschuldetes
Eigenthum im Stiche ließen, zuerst Bettler, dann Räuber wurden. Drakonische


politischen Gebilden, auf die sie hier stießen, nichts rechtes anzufangen. In
die übliche Schablone wollten sie nicht passen, wohl oder übel glaubte aber
der konservative wie der liberale Geschichtschreiber, sie doch irgendwo unter¬
bringen zu müssen. So entstand denn die konventionelle Sage von dem roua-
listischen Edelmann, der mit seinem frommen Lehnsmann herbeieile zur Stütze
des wankenden Thrones, zur Rache des gemordeten Königthums — ans kon¬
servativer Seite. Verschmitzte Junker und selbstsüchtige Pfaffen hetzten das
arme unwissende Volk, durch das Gold des Lcmdesseindes unterstützt, gegen seine
edelgesinnten liberalen Befreier, so stellte sich aus liberaler Seite die Sache
dar. Die fleißige und gewissenhafte Arbeit des Herrn Lescure zeigt nun, daß
diese beiden Auffassungen kaum etwas besseres sind, als von voreingenommenem
Parteistandpunkte aufgefaßte Zerrbilder, welche mit der historischen Wahrheit
ganz willkürlich umgingen. Lescure hat den einzig richtigen Weg ergriffen,
um ein Verständniß für Verhältnisse so eigenartiger Natur zu schaffen, wie
sie sonst in ganz Frankreich nicht wieder vorkommen. Er hat aus verschiedenen
Quellen eine Anzahl von Memoiren zusammengestellt, welche von den ver¬
schiedensten Parteien der damaligen Zeit herrühren und sich nothwendigerweise
gegenseitig ergänzen und berichtigen. Aus diese Weise erhält der Leser zuerst
ein richtiges Bild von Land und Leuten, und sieht nun, wie eben nur in
diesem Lande unter solchen Bewohnern ein so merkwürdiger Aufstand aus¬
brechen und mit ganz entschiedener Lebenskraft gegen eine gewaltige Uebermacht
lange Zeit sich behaupten konnte. In dieser Lebenskraft, die so lange, zum
Theil sogar siegreich, dem ganze» übrigen Frankreich gegenüber stand, liegt
aber der nnwiderlegliche Beweis, daß die Vendee eine innere sittliche Berech¬
tigung zu ihrem Widerstand besaß. Das eben war bisher der räthselhafte
Punkt. Auch der eifrigste Anhänger der monarchischen Regiernngsfrage muß,
wenn er sich durch Unkenntniß nicht lächerlich macheu will, zugeben, daß kein
Volk der Erde eine größere Berechtigung zur offnen gewaltsamen Revolution
besaß, als das französische in den Jahren von 1750—1789. Die Zustände,
welche Feudalismus und absolutes Königthum geschaffen hatten, waren geradezu
grauenerregend. Der Bauer und Bürger der kleinen Flecken, welche unter der
Herrschaft der Geistlichkeit und des Adels standen, und das waren fast Alle,
führte ein Leben, weit schlimmer, als die Thiere des Waldes, denn diese, selbst
die Wölfe, genossen zärtliche Berücksichtigung Seitens der Jagdherren. Ueber¬
mäßiger, dreifacher Steuerdruck, sür Staat, Kirche und Grundherren wurde
verzehnfacht durch das Institut der Steuerpächter. Ein feiler Richterstand
vernichtete die persönliche Sicherheit, durch die Einrichtung der heimlichen
Haftbefehle. So kam es, daß die verzweifelnden Fröhner ihr verschuldetes
Eigenthum im Stiche ließen, zuerst Bettler, dann Räuber wurden. Drakonische


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[0077] politischen Gebilden, auf die sie hier stießen, nichts rechtes anzufangen. In die übliche Schablone wollten sie nicht passen, wohl oder übel glaubte aber der konservative wie der liberale Geschichtschreiber, sie doch irgendwo unter¬ bringen zu müssen. So entstand denn die konventionelle Sage von dem roua- listischen Edelmann, der mit seinem frommen Lehnsmann herbeieile zur Stütze des wankenden Thrones, zur Rache des gemordeten Königthums — ans kon¬ servativer Seite. Verschmitzte Junker und selbstsüchtige Pfaffen hetzten das arme unwissende Volk, durch das Gold des Lcmdesseindes unterstützt, gegen seine edelgesinnten liberalen Befreier, so stellte sich aus liberaler Seite die Sache dar. Die fleißige und gewissenhafte Arbeit des Herrn Lescure zeigt nun, daß diese beiden Auffassungen kaum etwas besseres sind, als von voreingenommenem Parteistandpunkte aufgefaßte Zerrbilder, welche mit der historischen Wahrheit ganz willkürlich umgingen. Lescure hat den einzig richtigen Weg ergriffen, um ein Verständniß für Verhältnisse so eigenartiger Natur zu schaffen, wie sie sonst in ganz Frankreich nicht wieder vorkommen. Er hat aus verschiedenen Quellen eine Anzahl von Memoiren zusammengestellt, welche von den ver¬ schiedensten Parteien der damaligen Zeit herrühren und sich nothwendigerweise gegenseitig ergänzen und berichtigen. Aus diese Weise erhält der Leser zuerst ein richtiges Bild von Land und Leuten, und sieht nun, wie eben nur in diesem Lande unter solchen Bewohnern ein so merkwürdiger Aufstand aus¬ brechen und mit ganz entschiedener Lebenskraft gegen eine gewaltige Uebermacht lange Zeit sich behaupten konnte. In dieser Lebenskraft, die so lange, zum Theil sogar siegreich, dem ganze» übrigen Frankreich gegenüber stand, liegt aber der nnwiderlegliche Beweis, daß die Vendee eine innere sittliche Berech¬ tigung zu ihrem Widerstand besaß. Das eben war bisher der räthselhafte Punkt. Auch der eifrigste Anhänger der monarchischen Regiernngsfrage muß, wenn er sich durch Unkenntniß nicht lächerlich macheu will, zugeben, daß kein Volk der Erde eine größere Berechtigung zur offnen gewaltsamen Revolution besaß, als das französische in den Jahren von 1750—1789. Die Zustände, welche Feudalismus und absolutes Königthum geschaffen hatten, waren geradezu grauenerregend. Der Bauer und Bürger der kleinen Flecken, welche unter der Herrschaft der Geistlichkeit und des Adels standen, und das waren fast Alle, führte ein Leben, weit schlimmer, als die Thiere des Waldes, denn diese, selbst die Wölfe, genossen zärtliche Berücksichtigung Seitens der Jagdherren. Ueber¬ mäßiger, dreifacher Steuerdruck, sür Staat, Kirche und Grundherren wurde verzehnfacht durch das Institut der Steuerpächter. Ein feiler Richterstand vernichtete die persönliche Sicherheit, durch die Einrichtung der heimlichen Haftbefehle. So kam es, daß die verzweifelnden Fröhner ihr verschuldetes Eigenthum im Stiche ließen, zuerst Bettler, dann Räuber wurden. Drakonische

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157649/77>, abgerufen am 15.05.2024.