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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Es ist anzuerkennen, daß bei der nach 8 Sitzungen am 27. September
beendeten ersten Lesung der Vorlage von allen Seiten ein erhebliches Maß
von Opferwilligkeit kundgegeben worden ist und daß man bei verschiedenen
Auffassungen durch tieferes Eingehen in die Sache ernstlich darauf bedacht war,
sich gegenseitig zu nähern, so daß die Parteigegensätze innerhalb der Kommission
bei Weitem nicht so sehr wie sonst hervortraten. Selbst über die schwierigeren
Punkte des Entwurfs, bei denen am meisten für das Gesetz befürchtet werden
mußte, ist, wenn auch zum Theil erst nach langen Erörterungen, eine vorläu¬
fige Einigung erzielt ohne daß von den Vertretern des Bundesraths ein
Veto entgegengesetzt wäre.

Beim Beginn der Einzelberathung schienen Hänel und mit ihm wohl die
ganze Fortschrittspartei sich schwer bedrückt dadurch zu fühlen, daß sie im
Plenum wiederum einen rein negativen Standpunkt eingenommen und so, für
Jedermann einleuchtend, als unpraktische Männer erscheinen mußten. Dazu
hatte der Kanzler am 17. September die Fortschrittspartei noch ganz extra in
derselben Weise beleuchtet, wenngleich die betreffenden Aeußerungen zunächst
nur gegen Richter gegangen waren. Das wollte die Partei nicht auf sich sitzen
lassen, sie stellte daher eine Fassung des Z 1 aus, welche zugleich als Gegenent¬
wurf angesehen werden sollte und durche welche, in Ergänzung des H 130 des
Strafgesetzbuchs, der von früher her berüchtigte sogenannte Haß- und Verach-
tungs-Artikel selbst nach dem Urtheile der fortschrittlichen Hauptpreßorgane be¬
deutend übertroffen wurde. Und um so wunderlicher nahm sich dies aus, als
gerade Hänel den Vorschlag vorzubringen hatte, er, der noch drei Tage zuvor
jene Philippika gegen den "unannehmbaren und unamendirbaren" Entwurf ge¬
halten hatte. "Wenn wir gewußt hätten", sagte die fortschrittliche Berliner
"Volks-Zeitung", "daß ein solcher Entwurf im Hintergründe lauerte, so wäre
es uns lieber gewesen, die wirklich prächtige Rede Hänel's wäre gar nicht ge¬
halten". Ein Versuch der Klausner'schen fortschrittlichen Korrespondenz, den
Widerspruch zu erläutern, rief selbst in den meisten übrigen Blättern dieser
Partei nur Hohn hervor; eins derselben sprach Hänel allen Charakter ab und
meinte, sein Vorschlag gehöre "zu dem Schlimmsten, was bisher im Genre der
legislativen Gummi-Artikel vorgekommen ist". Hänel und Genossen hatten
wohl selbst nicht an Genehmigung ihres Vorschlags geglaubt, aber es war doch
sehr gewagt, einen solchen Vorschlag blos deshalb zu machen, um, wie die
Vossische Zeitung erläuterte, die Partei vor dem Verdachte der Negation zu be¬
wahren. Nun, wir meinen, unpraktischer hätte bei dieser Sorge für's eigene
Haus nicht verfahren, ungeschickter der Boden des Positiven nicht betreten werden
können. Hänel sah für seinen Vorschlag nur Brttel und Reichensperger ein¬
treten und mag froh gewesen sein, als letzterer einen ähnlichen formulirte, zu


Grenzboten IV. 1878. 6

Es ist anzuerkennen, daß bei der nach 8 Sitzungen am 27. September
beendeten ersten Lesung der Vorlage von allen Seiten ein erhebliches Maß
von Opferwilligkeit kundgegeben worden ist und daß man bei verschiedenen
Auffassungen durch tieferes Eingehen in die Sache ernstlich darauf bedacht war,
sich gegenseitig zu nähern, so daß die Parteigegensätze innerhalb der Kommission
bei Weitem nicht so sehr wie sonst hervortraten. Selbst über die schwierigeren
Punkte des Entwurfs, bei denen am meisten für das Gesetz befürchtet werden
mußte, ist, wenn auch zum Theil erst nach langen Erörterungen, eine vorläu¬
fige Einigung erzielt ohne daß von den Vertretern des Bundesraths ein
Veto entgegengesetzt wäre.

Beim Beginn der Einzelberathung schienen Hänel und mit ihm wohl die
ganze Fortschrittspartei sich schwer bedrückt dadurch zu fühlen, daß sie im
Plenum wiederum einen rein negativen Standpunkt eingenommen und so, für
Jedermann einleuchtend, als unpraktische Männer erscheinen mußten. Dazu
hatte der Kanzler am 17. September die Fortschrittspartei noch ganz extra in
derselben Weise beleuchtet, wenngleich die betreffenden Aeußerungen zunächst
nur gegen Richter gegangen waren. Das wollte die Partei nicht auf sich sitzen
lassen, sie stellte daher eine Fassung des Z 1 aus, welche zugleich als Gegenent¬
wurf angesehen werden sollte und durche welche, in Ergänzung des H 130 des
Strafgesetzbuchs, der von früher her berüchtigte sogenannte Haß- und Verach-
tungs-Artikel selbst nach dem Urtheile der fortschrittlichen Hauptpreßorgane be¬
deutend übertroffen wurde. Und um so wunderlicher nahm sich dies aus, als
gerade Hänel den Vorschlag vorzubringen hatte, er, der noch drei Tage zuvor
jene Philippika gegen den „unannehmbaren und unamendirbaren" Entwurf ge¬
halten hatte. „Wenn wir gewußt hätten", sagte die fortschrittliche Berliner
„Volks-Zeitung", „daß ein solcher Entwurf im Hintergründe lauerte, so wäre
es uns lieber gewesen, die wirklich prächtige Rede Hänel's wäre gar nicht ge¬
halten". Ein Versuch der Klausner'schen fortschrittlichen Korrespondenz, den
Widerspruch zu erläutern, rief selbst in den meisten übrigen Blättern dieser
Partei nur Hohn hervor; eins derselben sprach Hänel allen Charakter ab und
meinte, sein Vorschlag gehöre „zu dem Schlimmsten, was bisher im Genre der
legislativen Gummi-Artikel vorgekommen ist". Hänel und Genossen hatten
wohl selbst nicht an Genehmigung ihres Vorschlags geglaubt, aber es war doch
sehr gewagt, einen solchen Vorschlag blos deshalb zu machen, um, wie die
Vossische Zeitung erläuterte, die Partei vor dem Verdachte der Negation zu be¬
wahren. Nun, wir meinen, unpraktischer hätte bei dieser Sorge für's eigene
Haus nicht verfahren, ungeschickter der Boden des Positiven nicht betreten werden
können. Hänel sah für seinen Vorschlag nur Brttel und Reichensperger ein¬
treten und mag froh gewesen sein, als letzterer einen ähnlichen formulirte, zu


Grenzboten IV. 1878. 6
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[0037] Es ist anzuerkennen, daß bei der nach 8 Sitzungen am 27. September beendeten ersten Lesung der Vorlage von allen Seiten ein erhebliches Maß von Opferwilligkeit kundgegeben worden ist und daß man bei verschiedenen Auffassungen durch tieferes Eingehen in die Sache ernstlich darauf bedacht war, sich gegenseitig zu nähern, so daß die Parteigegensätze innerhalb der Kommission bei Weitem nicht so sehr wie sonst hervortraten. Selbst über die schwierigeren Punkte des Entwurfs, bei denen am meisten für das Gesetz befürchtet werden mußte, ist, wenn auch zum Theil erst nach langen Erörterungen, eine vorläu¬ fige Einigung erzielt ohne daß von den Vertretern des Bundesraths ein Veto entgegengesetzt wäre. Beim Beginn der Einzelberathung schienen Hänel und mit ihm wohl die ganze Fortschrittspartei sich schwer bedrückt dadurch zu fühlen, daß sie im Plenum wiederum einen rein negativen Standpunkt eingenommen und so, für Jedermann einleuchtend, als unpraktische Männer erscheinen mußten. Dazu hatte der Kanzler am 17. September die Fortschrittspartei noch ganz extra in derselben Weise beleuchtet, wenngleich die betreffenden Aeußerungen zunächst nur gegen Richter gegangen waren. Das wollte die Partei nicht auf sich sitzen lassen, sie stellte daher eine Fassung des Z 1 aus, welche zugleich als Gegenent¬ wurf angesehen werden sollte und durche welche, in Ergänzung des H 130 des Strafgesetzbuchs, der von früher her berüchtigte sogenannte Haß- und Verach- tungs-Artikel selbst nach dem Urtheile der fortschrittlichen Hauptpreßorgane be¬ deutend übertroffen wurde. Und um so wunderlicher nahm sich dies aus, als gerade Hänel den Vorschlag vorzubringen hatte, er, der noch drei Tage zuvor jene Philippika gegen den „unannehmbaren und unamendirbaren" Entwurf ge¬ halten hatte. „Wenn wir gewußt hätten", sagte die fortschrittliche Berliner „Volks-Zeitung", „daß ein solcher Entwurf im Hintergründe lauerte, so wäre es uns lieber gewesen, die wirklich prächtige Rede Hänel's wäre gar nicht ge¬ halten". Ein Versuch der Klausner'schen fortschrittlichen Korrespondenz, den Widerspruch zu erläutern, rief selbst in den meisten übrigen Blättern dieser Partei nur Hohn hervor; eins derselben sprach Hänel allen Charakter ab und meinte, sein Vorschlag gehöre „zu dem Schlimmsten, was bisher im Genre der legislativen Gummi-Artikel vorgekommen ist". Hänel und Genossen hatten wohl selbst nicht an Genehmigung ihres Vorschlags geglaubt, aber es war doch sehr gewagt, einen solchen Vorschlag blos deshalb zu machen, um, wie die Vossische Zeitung erläuterte, die Partei vor dem Verdachte der Negation zu be¬ wahren. Nun, wir meinen, unpraktischer hätte bei dieser Sorge für's eigene Haus nicht verfahren, ungeschickter der Boden des Positiven nicht betreten werden können. Hänel sah für seinen Vorschlag nur Brttel und Reichensperger ein¬ treten und mag froh gewesen sein, als letzterer einen ähnlichen formulirte, zu Grenzboten IV. 1878. 6

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/37>, abgerufen am 15.05.2024.