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Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band.

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Bearbeitung des englischen Werkes, deren Erscheinen ja vorauszusehen und nur
zu wünschen war, zum Vergleich mit heranziehen kann.

Sine's Lessingbiographie wurde bei ihrem Erscheinen auch in Deutschland
sofort mit allgemeiner Freude willkommen geheißen. Man wünschte beiden
Glück, den Engländern und uns, daß einer der größten Geister unseres Volkes
einen so trefflichen Biographen jenseits des Kanals gefunden, einen noch bes¬
seren als Schiller in Carlyle -- die Bulwer'sche Skizze kann hier nicht in
Betracht kommen -- und Goethe in Lewes; man freute sich um so mehr
darüber, da Lessing, trotzdem daß er der Bahnbrecher Shakespeare's in Deutsch¬
land gewesen ist und trotz der sonstigen zahllosen Berührungspunkte seiner
Studien mit der englischen Literatur, schon um seiner theologischen Richtung
willen dem englischen Volke bisher weniger sympathisch war als Schiller und
Goethe, es also einer doppelt gediegenen und gehaltvollen Darstellung bedürfte,
um diese mangelnden Sympathien anzufachen; ja man beneidete die Engländer
um dieses Buch, erneuerte die schon oft mit patriotischen Beklemmungen gezo¬
gene Parallele zwischen Lewes' Goethebiographie und dem bei uns in dieser
Richtung bisher Geleisteten und gestand sich, daß eine ähnliche für uns be¬
schämende Parallele von nun an auch in der Lessingliteratur werde gezogen
werden müssen. Darauf erhob die zünftige deutsche Literaturwissenschaft ihre
Stimme -- eine der jugendlichsten unter ihren zünftigen Schwestern, die sich
aber trotzdem bereits gewaltig fühlen gelernt hat -- und suchte der allge-
meinen Erregung einen kleinen Dämpfer aufzusetzen. Wozu der Lärm? hieß es,
das Buch von Sine enthält ja absolut nichts Neues, es ist nichts weiter als eine
geschickte Verarbeitung des in Deutschland längst bekannten Materiales, mit aller
Umsicht zwar und allem Fleiß veranstaltet, so daß von der einschlägigen
deutschen Literatur dem englischen Versasser nichts Wesentliches entgangen ist, aber
doch kein Buch darnach, um bei uns in Deutschland solches Aufhebens davon
zu machen. Bis dann endlich in der allerjüngsten Zeit sich noch einmal eine
halbzünftlerische Stimme im gegentheiligen Sinne vernehmen ließ, mit breitem
Behagen Auszüge aus dem Buche brachte, die immer mit den Worten einge¬
leitet wurden: "Hierüber sagt Sine" und "Darüber sagt Sine", so daß es
nun wieder fast den Anschein gewann, als ob in dem Buche des Engländer's
so gut wie alles neu, und als ob alles das, was "Sine sagt", vorher noch
von keinem Sterblichen gesagt worden sei.

Wie stehen nun die Dinge? Was ist eigentlich die Wahrheit? -- Nach
unsrer Meinung Folgendes: Wir hatten bisher in Deutschland zwei biogra¬
phische Werke über Lessing, das umfassende Werk von Danzel und Guhrauer
und das bekannte Buch von Stahr. Danzel's Darstellung gehört zu jenen
wuchtigen Materialsammlungen, an denen wir Deutschen keinen Mangel haben,


Bearbeitung des englischen Werkes, deren Erscheinen ja vorauszusehen und nur
zu wünschen war, zum Vergleich mit heranziehen kann.

Sine's Lessingbiographie wurde bei ihrem Erscheinen auch in Deutschland
sofort mit allgemeiner Freude willkommen geheißen. Man wünschte beiden
Glück, den Engländern und uns, daß einer der größten Geister unseres Volkes
einen so trefflichen Biographen jenseits des Kanals gefunden, einen noch bes¬
seren als Schiller in Carlyle — die Bulwer'sche Skizze kann hier nicht in
Betracht kommen — und Goethe in Lewes; man freute sich um so mehr
darüber, da Lessing, trotzdem daß er der Bahnbrecher Shakespeare's in Deutsch¬
land gewesen ist und trotz der sonstigen zahllosen Berührungspunkte seiner
Studien mit der englischen Literatur, schon um seiner theologischen Richtung
willen dem englischen Volke bisher weniger sympathisch war als Schiller und
Goethe, es also einer doppelt gediegenen und gehaltvollen Darstellung bedürfte,
um diese mangelnden Sympathien anzufachen; ja man beneidete die Engländer
um dieses Buch, erneuerte die schon oft mit patriotischen Beklemmungen gezo¬
gene Parallele zwischen Lewes' Goethebiographie und dem bei uns in dieser
Richtung bisher Geleisteten und gestand sich, daß eine ähnliche für uns be¬
schämende Parallele von nun an auch in der Lessingliteratur werde gezogen
werden müssen. Darauf erhob die zünftige deutsche Literaturwissenschaft ihre
Stimme — eine der jugendlichsten unter ihren zünftigen Schwestern, die sich
aber trotzdem bereits gewaltig fühlen gelernt hat — und suchte der allge-
meinen Erregung einen kleinen Dämpfer aufzusetzen. Wozu der Lärm? hieß es,
das Buch von Sine enthält ja absolut nichts Neues, es ist nichts weiter als eine
geschickte Verarbeitung des in Deutschland längst bekannten Materiales, mit aller
Umsicht zwar und allem Fleiß veranstaltet, so daß von der einschlägigen
deutschen Literatur dem englischen Versasser nichts Wesentliches entgangen ist, aber
doch kein Buch darnach, um bei uns in Deutschland solches Aufhebens davon
zu machen. Bis dann endlich in der allerjüngsten Zeit sich noch einmal eine
halbzünftlerische Stimme im gegentheiligen Sinne vernehmen ließ, mit breitem
Behagen Auszüge aus dem Buche brachte, die immer mit den Worten einge¬
leitet wurden: „Hierüber sagt Sine" und „Darüber sagt Sine", so daß es
nun wieder fast den Anschein gewann, als ob in dem Buche des Engländer's
so gut wie alles neu, und als ob alles das, was „Sine sagt", vorher noch
von keinem Sterblichen gesagt worden sei.

Wie stehen nun die Dinge? Was ist eigentlich die Wahrheit? — Nach
unsrer Meinung Folgendes: Wir hatten bisher in Deutschland zwei biogra¬
phische Werke über Lessing, das umfassende Werk von Danzel und Guhrauer
und das bekannte Buch von Stahr. Danzel's Darstellung gehört zu jenen
wuchtigen Materialsammlungen, an denen wir Deutschen keinen Mangel haben,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 37, 1878, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341827_157670/79>, abgerufen am 16.05.2024.