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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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finden, und noch verhängnißvoller ist Folgendes, Unsere Abgeordneten kommen
zu ihrer Arbeit meist mit den Gewohnheiten und Anschauungen von Stadt¬
verordneten oder anderen Trägern des kommunalen Lebens, in welchem jedes
Zugeständniß fiir ein anderes eingetauscht, jede Bewilligung nnr bedingt er¬
theilt zu werden pflegt. Sie bringen in ihrer Mehrzahl einen feindseligen
Advokatengeist mit, der die Regierung stets mehr oder minder als Gegnerin
ansieht und ihr mit Mißtrauen gegenübersteht, und so ist ihre Thätigkeit in
erster Linie ein fortwährender Kampf, statt daß sie ein Zusammenwirken mit
der Regierung sein sollte, bei dem die eine Seite die andere ergänzte.

Dieses mißtrauische, feindselige Wesen ließ sich entschuldigen, so lange die
Verfassung selbst noch in Frage stand, und eine mächtige Partei sie bedrohte.
Heute denkt niemand mehr daran, an die Grundlagen derselben die Hand zu
legen, und so wäre es Pflicht für Viele, in sich zu gehen, ihre gewohnten
Rechtsauffassungen einer Revision zu unterwerfen und sich mit dem wahren
politischen Geiste zu durchdringen, der ans der Berücksichtigung des Allgemeinen
fließt. Sehr segensreich könnte hier eine tüchtig geleitete, wohlgesinnte Presse
wirken. Aber Gneist hat Recht, wenn er dieses Mittel zur Klärung der An¬
sichten bei uns vermißt und in der Mehrzahl unserer Zeitungen lediglich das
Streben, interessant zu sein, und Gefallen an Nichtigkeiten die erste Geige
spielen sieht. "Man würde erstaunen," sagt er, "zu bemerken, welche Blätter
bevorzugt werden, schlimmsten Falls mit der Entschuldigung, daß die für den
Standpunkt des Hausherrn passenden Blätter gar zu trocken und uninteressant
für die Familie seien. Das Skandalöse, das Triviale, das Anekdotenhafte
hat hier wie im Theater und in der Kunst den entschiedenen Vorzug."

Vortrefflich ist endlich, was unsere Schrift von dem Fraktionstreiben in
unseren Parlamenten sagt, von jenem leidigen Cliquenwesen, das keinen selb¬
ständigen Geist aufkommen läßt, und von jenen Abmachungen im Kreise der
Partei, die den Einzelnen schon gebunden, verpflichtet und festgerannt haben,
bevor die Regierung noch Zeit und Gelegenheit gefunden hat, die Gründe, die
sie zu ihren Vorlagen bestimmen, und die Ziele, die sie damit verfolgt, anzu¬
geben. Indem wir die Schrift als sehr beherzigenswerth empfehlen, schließen
wir mit den Worten des Verfassers:

"Wir gehen einer Zeit entgegen, welche im preußischen Landtage wie im
deutschen Reichstage vielleicht wenig zufriedenstellende Resultate, vielmehr zahl¬
reiche Mißstimmungen, Enttäuschungen und höhere Steuern bringen wird.
Vielleicht erinnern wir uns dann einmal daran, daß das Mißgeschick im Leben
des Einzelnen wie der Völker von der göttlichen Vorsehung dazu bestimmt ist,
den Ernst und das Pflichtgefühl zu wecken. Vielleicht wird sich noch die
lebende Generation überzeugen, daß es der heutigen Welt etwas zu leicht ge-


finden, und noch verhängnißvoller ist Folgendes, Unsere Abgeordneten kommen
zu ihrer Arbeit meist mit den Gewohnheiten und Anschauungen von Stadt¬
verordneten oder anderen Trägern des kommunalen Lebens, in welchem jedes
Zugeständniß fiir ein anderes eingetauscht, jede Bewilligung nnr bedingt er¬
theilt zu werden pflegt. Sie bringen in ihrer Mehrzahl einen feindseligen
Advokatengeist mit, der die Regierung stets mehr oder minder als Gegnerin
ansieht und ihr mit Mißtrauen gegenübersteht, und so ist ihre Thätigkeit in
erster Linie ein fortwährender Kampf, statt daß sie ein Zusammenwirken mit
der Regierung sein sollte, bei dem die eine Seite die andere ergänzte.

Dieses mißtrauische, feindselige Wesen ließ sich entschuldigen, so lange die
Verfassung selbst noch in Frage stand, und eine mächtige Partei sie bedrohte.
Heute denkt niemand mehr daran, an die Grundlagen derselben die Hand zu
legen, und so wäre es Pflicht für Viele, in sich zu gehen, ihre gewohnten
Rechtsauffassungen einer Revision zu unterwerfen und sich mit dem wahren
politischen Geiste zu durchdringen, der ans der Berücksichtigung des Allgemeinen
fließt. Sehr segensreich könnte hier eine tüchtig geleitete, wohlgesinnte Presse
wirken. Aber Gneist hat Recht, wenn er dieses Mittel zur Klärung der An¬
sichten bei uns vermißt und in der Mehrzahl unserer Zeitungen lediglich das
Streben, interessant zu sein, und Gefallen an Nichtigkeiten die erste Geige
spielen sieht. „Man würde erstaunen," sagt er, „zu bemerken, welche Blätter
bevorzugt werden, schlimmsten Falls mit der Entschuldigung, daß die für den
Standpunkt des Hausherrn passenden Blätter gar zu trocken und uninteressant
für die Familie seien. Das Skandalöse, das Triviale, das Anekdotenhafte
hat hier wie im Theater und in der Kunst den entschiedenen Vorzug."

Vortrefflich ist endlich, was unsere Schrift von dem Fraktionstreiben in
unseren Parlamenten sagt, von jenem leidigen Cliquenwesen, das keinen selb¬
ständigen Geist aufkommen läßt, und von jenen Abmachungen im Kreise der
Partei, die den Einzelnen schon gebunden, verpflichtet und festgerannt haben,
bevor die Regierung noch Zeit und Gelegenheit gefunden hat, die Gründe, die
sie zu ihren Vorlagen bestimmen, und die Ziele, die sie damit verfolgt, anzu¬
geben. Indem wir die Schrift als sehr beherzigenswerth empfehlen, schließen
wir mit den Worten des Verfassers:

„Wir gehen einer Zeit entgegen, welche im preußischen Landtage wie im
deutschen Reichstage vielleicht wenig zufriedenstellende Resultate, vielmehr zahl¬
reiche Mißstimmungen, Enttäuschungen und höhere Steuern bringen wird.
Vielleicht erinnern wir uns dann einmal daran, daß das Mißgeschick im Leben
des Einzelnen wie der Völker von der göttlichen Vorsehung dazu bestimmt ist,
den Ernst und das Pflichtgefühl zu wecken. Vielleicht wird sich noch die
lebende Generation überzeugen, daß es der heutigen Welt etwas zu leicht ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/125>, abgerufen am 19.05.2024.