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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal.

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geschehen, so hatte diese ganze Erscheinung für die Erbauung der Gemeinde
keinen Werth. Paulus, der dem Zungenreden eine geringe Bedeutung zuer¬
kannte, ließ es deshalb nur unter der Bedingung in den Gemeindeversamm¬
lungen zu. daß Sicherheit für eine sich anschließende Ausdeutung gegeben war.

Die allgemeinste und unmittelbarste Bethätigung des religiösen Lebens ist
das Gebet, und wir dürfen nicht zweifeln, daß dasselbe die christlichen Gottes¬
dienste, sowohl die exoterischen wie die esoterischen, durchzogen hat. Davon
aber, daß das Gebet schon eine formularische Gestalt gewonnen hätte, sind
keine Spuren vorhanden. Kurze lobsagende Zusammenfassungen, wie wir sie
aus den Eingangs- und Schlußgrüßen der apostolischen Briefe kennen, und das
einfallende Amen der Gemeinde bilden auf diesem Gebiete die allein wahr¬
nehmbaren Fixirungen. Das Gebet war ein freies, individuelles. Ebenso
haben wir uns die Gesänge, die in den Versammlungen laut wurden, nicht
als von der Gemeinde als einem Ganzen ausgehend zu denken, es waren
Einzelne, die sie anstimmten. Drei Arten von Gesängen werden uns genannt:
Psalmen -- vielleicht Reproduktionen alttestamentlicher Psalmen --, Hymnen,
Lobgesänge im engeren Sinne, und geistliche Lieder, Vorträge allgemeineren
Inhalts, aber von religiöser Grundstimmung getragen. Ob die Psalmen, wie
ihre alttestamentlichen Vorbilder, musikalisch begleitet wurden, läßt sich nicht
entscheiden.

Wir stehen am Schlüsse unserer Darstellung. Das Bild, welches uns die
neutestamentlichen Schriften vom Verlaufe des christlichen Gottesdienstes zeichnen,
entspricht unseren Erwartungen. Wir finden alles im Werden, die erregte
christliche Subjektivität ist der wesentliche und entscheidende Erzeuger der Er¬
bauung. Der Umfang der festen Bestandtheile des Gottesdienstes ist noch
gering, sie finden sich in der Feier des Abendmahles und in Elementen des
Lehrvortrages. Langsamer als das Verfassungsleben, das seiner das Aeußere
angehenden Natur gemäß sich leichter an die vorgefundenen festen Formen der
Synagoge anlehnen konnte, hat das im Innersten des Gemüths wurzelnde
gottesdienstliche Leben der christlichen Gemeinden eine objektive Gestalt ge¬
funden. Die Lebhaftigkeit der Bewegung, welche die Verkündigung des Evan¬
geliums in den sich ihr erschließenden Persönlichkeiten hervorgebracht hatte,
war zu stark, als daß sie sich in objektiven Formen hätte darstellen und aus
ihnen wieder erzeugen können.


H. Jacoby.


geschehen, so hatte diese ganze Erscheinung für die Erbauung der Gemeinde
keinen Werth. Paulus, der dem Zungenreden eine geringe Bedeutung zuer¬
kannte, ließ es deshalb nur unter der Bedingung in den Gemeindeversamm¬
lungen zu. daß Sicherheit für eine sich anschließende Ausdeutung gegeben war.

Die allgemeinste und unmittelbarste Bethätigung des religiösen Lebens ist
das Gebet, und wir dürfen nicht zweifeln, daß dasselbe die christlichen Gottes¬
dienste, sowohl die exoterischen wie die esoterischen, durchzogen hat. Davon
aber, daß das Gebet schon eine formularische Gestalt gewonnen hätte, sind
keine Spuren vorhanden. Kurze lobsagende Zusammenfassungen, wie wir sie
aus den Eingangs- und Schlußgrüßen der apostolischen Briefe kennen, und das
einfallende Amen der Gemeinde bilden auf diesem Gebiete die allein wahr¬
nehmbaren Fixirungen. Das Gebet war ein freies, individuelles. Ebenso
haben wir uns die Gesänge, die in den Versammlungen laut wurden, nicht
als von der Gemeinde als einem Ganzen ausgehend zu denken, es waren
Einzelne, die sie anstimmten. Drei Arten von Gesängen werden uns genannt:
Psalmen — vielleicht Reproduktionen alttestamentlicher Psalmen —, Hymnen,
Lobgesänge im engeren Sinne, und geistliche Lieder, Vorträge allgemeineren
Inhalts, aber von religiöser Grundstimmung getragen. Ob die Psalmen, wie
ihre alttestamentlichen Vorbilder, musikalisch begleitet wurden, läßt sich nicht
entscheiden.

Wir stehen am Schlüsse unserer Darstellung. Das Bild, welches uns die
neutestamentlichen Schriften vom Verlaufe des christlichen Gottesdienstes zeichnen,
entspricht unseren Erwartungen. Wir finden alles im Werden, die erregte
christliche Subjektivität ist der wesentliche und entscheidende Erzeuger der Er¬
bauung. Der Umfang der festen Bestandtheile des Gottesdienstes ist noch
gering, sie finden sich in der Feier des Abendmahles und in Elementen des
Lehrvortrages. Langsamer als das Verfassungsleben, das seiner das Aeußere
angehenden Natur gemäß sich leichter an die vorgefundenen festen Formen der
Synagoge anlehnen konnte, hat das im Innersten des Gemüths wurzelnde
gottesdienstliche Leben der christlichen Gemeinden eine objektive Gestalt ge¬
funden. Die Lebhaftigkeit der Bewegung, welche die Verkündigung des Evan¬
geliums in den sich ihr erschließenden Persönlichkeiten hervorgebracht hatte,
war zu stark, als daß sie sich in objektiven Formen hätte darstellen und aus
ihnen wieder erzeugen können.


H. Jacoby.


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[0394] geschehen, so hatte diese ganze Erscheinung für die Erbauung der Gemeinde keinen Werth. Paulus, der dem Zungenreden eine geringe Bedeutung zuer¬ kannte, ließ es deshalb nur unter der Bedingung in den Gemeindeversamm¬ lungen zu. daß Sicherheit für eine sich anschließende Ausdeutung gegeben war. Die allgemeinste und unmittelbarste Bethätigung des religiösen Lebens ist das Gebet, und wir dürfen nicht zweifeln, daß dasselbe die christlichen Gottes¬ dienste, sowohl die exoterischen wie die esoterischen, durchzogen hat. Davon aber, daß das Gebet schon eine formularische Gestalt gewonnen hätte, sind keine Spuren vorhanden. Kurze lobsagende Zusammenfassungen, wie wir sie aus den Eingangs- und Schlußgrüßen der apostolischen Briefe kennen, und das einfallende Amen der Gemeinde bilden auf diesem Gebiete die allein wahr¬ nehmbaren Fixirungen. Das Gebet war ein freies, individuelles. Ebenso haben wir uns die Gesänge, die in den Versammlungen laut wurden, nicht als von der Gemeinde als einem Ganzen ausgehend zu denken, es waren Einzelne, die sie anstimmten. Drei Arten von Gesängen werden uns genannt: Psalmen — vielleicht Reproduktionen alttestamentlicher Psalmen —, Hymnen, Lobgesänge im engeren Sinne, und geistliche Lieder, Vorträge allgemeineren Inhalts, aber von religiöser Grundstimmung getragen. Ob die Psalmen, wie ihre alttestamentlichen Vorbilder, musikalisch begleitet wurden, läßt sich nicht entscheiden. Wir stehen am Schlüsse unserer Darstellung. Das Bild, welches uns die neutestamentlichen Schriften vom Verlaufe des christlichen Gottesdienstes zeichnen, entspricht unseren Erwartungen. Wir finden alles im Werden, die erregte christliche Subjektivität ist der wesentliche und entscheidende Erzeuger der Er¬ bauung. Der Umfang der festen Bestandtheile des Gottesdienstes ist noch gering, sie finden sich in der Feier des Abendmahles und in Elementen des Lehrvortrages. Langsamer als das Verfassungsleben, das seiner das Aeußere angehenden Natur gemäß sich leichter an die vorgefundenen festen Formen der Synagoge anlehnen konnte, hat das im Innersten des Gemüths wurzelnde gottesdienstliche Leben der christlichen Gemeinden eine objektive Gestalt ge¬ funden. Die Lebhaftigkeit der Bewegung, welche die Verkündigung des Evan¬ geliums in den sich ihr erschließenden Persönlichkeiten hervorgebracht hatte, war zu stark, als daß sie sich in objektiven Formen hätte darstellen und aus ihnen wieder erzeugen können. H. Jacoby.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_141412/394>, abgerufen am 27.05.2024.