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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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als unerbittliche Nothwendigkeit, warum ist dieses "Was" nicht gleich von vorn¬
herein ein stiller Friede, einsame Eudämonie, welche -- ohne alle Zwischen¬
fälle -- von Ewigkeit zu Ewigkeit verwirklicht war und blieb? Ist denn nicht
das störende Dazwischenfahren des dummen Urwillens im Grunde auch ein
"Was" des Daseins, welches sonach nicht weniger in der Vernunft begründet
wäre, als seine speziellen Folgen und die Folgen dieser Folgen? Dann ver¬
schwindet aber völlig die Scheidung zwischen dem Daß und dem Was, die Vernunft
wird Alleinherrscherin, der Wille wird der Vollzieher ihrer Befehle, und die
Einheit des Absoluten ist wieder hergestellt, mit ihr -- der Optimismus und
ein System ethischer That, ethischer Vernunftnothwendigkeit, welches ein System
der Freiheit nur noch heißen kann, sofern es eine ethische Kausalität an die
höchste Stelle hebt. Zu dieser Umwendung zum Besseren bedienen wir uns
dann mit Freuden der von Hartmann selbst dargebotenen Handhaben. In
der Vernunft findet auch er die Idee des Guten, die moralische Teleologie,
und die Idee des Guten ist ihm das Gegentheil alles selbstischen Wollens;
vernunftnothwendig, lehrt er, liegt im Zweckbegriffe der Begriff der Eudämonie;
also die selbstlose Zwecksetzung der Eudämonie, so müssen wir folgern, ist die
Idee des Guten, ist der göttliche Vernunftwille. Wohl zu schaffen, aber nicht
sein eigenes, sondern das Wohl einer Welt, nicht um seiner Beseligung willen,
sondern um der Beseligung seiner Geschöpfe willen -- das ist das vernunft¬
nothwendige Gute in Gott, und durch Gott in uns; Gott, die absolute Urver-
nunft, wird durch den Inhalt dieser Vernunft selbst zur schöpferischen Liebe.

Aber Hartmann's Ausgangspunkt ist die Erfahrung, seine Methode die
induktive. Erfahrungsmüßig ist die Welt schlecht, das Leben eine Qual --
wie mag Gottes Liebe der Grund davon sein? Wunderlich! Nirgends mehr
zeigt sich die ganze subjektiv pathologische Begründung dieses Standpunktes,
als wo er sich der objektivster, der empirisch-exakten Methode rühmt. Wie
sollte es auch angefangen werden, um empirisch zu konstatiren, ob das Leben
eine Qual sei oder eine Lust? Die empirische Methode stellt Thatsachen fest,
die Induktion verallgemeinert die Thatsachen zu Gesetzen, soweit ihr nicht
Gegeninstanzen es verbieten, und nachdem sie alle Mittel erschöpft hat, um
Gegeninstanzen hervorzulocken. Was ist aber hier die festzustellende Thatsache?^
Ein Gefühl. Und nicht ein vereinzeltes, sondern die Gefühlssumme eines
ganzen Menschenlebens, nach Lust und Unlust. Direkt beobachten könnte ich
es nur in mir selbst. Aber mein Leben liegt noch nicht abgeschlossen vor
meinem Blicke. Und habe ich denn von allen abgelaufenen Gefühlsmomenten
noch heute ein sicheres Bild? Oder, soll ich mich an das gegenwärtige Ge-
sammtgesühl halten, wie es aus sämmtlichen Erinnerungen sich niedergeschlagen
hat als Gesammturtheil über mein Lebensglück, so fragt sich wieder: wann,


als unerbittliche Nothwendigkeit, warum ist dieses „Was" nicht gleich von vorn¬
herein ein stiller Friede, einsame Eudämonie, welche — ohne alle Zwischen¬
fälle — von Ewigkeit zu Ewigkeit verwirklicht war und blieb? Ist denn nicht
das störende Dazwischenfahren des dummen Urwillens im Grunde auch ein
„Was" des Daseins, welches sonach nicht weniger in der Vernunft begründet
wäre, als seine speziellen Folgen und die Folgen dieser Folgen? Dann ver¬
schwindet aber völlig die Scheidung zwischen dem Daß und dem Was, die Vernunft
wird Alleinherrscherin, der Wille wird der Vollzieher ihrer Befehle, und die
Einheit des Absoluten ist wieder hergestellt, mit ihr — der Optimismus und
ein System ethischer That, ethischer Vernunftnothwendigkeit, welches ein System
der Freiheit nur noch heißen kann, sofern es eine ethische Kausalität an die
höchste Stelle hebt. Zu dieser Umwendung zum Besseren bedienen wir uns
dann mit Freuden der von Hartmann selbst dargebotenen Handhaben. In
der Vernunft findet auch er die Idee des Guten, die moralische Teleologie,
und die Idee des Guten ist ihm das Gegentheil alles selbstischen Wollens;
vernunftnothwendig, lehrt er, liegt im Zweckbegriffe der Begriff der Eudämonie;
also die selbstlose Zwecksetzung der Eudämonie, so müssen wir folgern, ist die
Idee des Guten, ist der göttliche Vernunftwille. Wohl zu schaffen, aber nicht
sein eigenes, sondern das Wohl einer Welt, nicht um seiner Beseligung willen,
sondern um der Beseligung seiner Geschöpfe willen — das ist das vernunft¬
nothwendige Gute in Gott, und durch Gott in uns; Gott, die absolute Urver-
nunft, wird durch den Inhalt dieser Vernunft selbst zur schöpferischen Liebe.

Aber Hartmann's Ausgangspunkt ist die Erfahrung, seine Methode die
induktive. Erfahrungsmüßig ist die Welt schlecht, das Leben eine Qual —
wie mag Gottes Liebe der Grund davon sein? Wunderlich! Nirgends mehr
zeigt sich die ganze subjektiv pathologische Begründung dieses Standpunktes,
als wo er sich der objektivster, der empirisch-exakten Methode rühmt. Wie
sollte es auch angefangen werden, um empirisch zu konstatiren, ob das Leben
eine Qual sei oder eine Lust? Die empirische Methode stellt Thatsachen fest,
die Induktion verallgemeinert die Thatsachen zu Gesetzen, soweit ihr nicht
Gegeninstanzen es verbieten, und nachdem sie alle Mittel erschöpft hat, um
Gegeninstanzen hervorzulocken. Was ist aber hier die festzustellende Thatsache?^
Ein Gefühl. Und nicht ein vereinzeltes, sondern die Gefühlssumme eines
ganzen Menschenlebens, nach Lust und Unlust. Direkt beobachten könnte ich
es nur in mir selbst. Aber mein Leben liegt noch nicht abgeschlossen vor
meinem Blicke. Und habe ich denn von allen abgelaufenen Gefühlsmomenten
noch heute ein sicheres Bild? Oder, soll ich mich an das gegenwärtige Ge-
sammtgesühl halten, wie es aus sämmtlichen Erinnerungen sich niedergeschlagen
hat als Gesammturtheil über mein Lebensglück, so fragt sich wieder: wann,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/110>, abgerufen am 03.06.2024.