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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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^chen Systems, das in der vorliegenden bestimmten Gestalt I. H. v. Kirchmann
zum Urheber hat. Wer sich über dasselbe orientiren will, dem kann die Schrift
Wolfs's durchaus empfohlen werden, zumal da sie durch Klarheit, Faßlichkeit
und Leichtigkeit der Schreibweise sich auszeichnet. Vor dem System selbst frei¬
lich können wir nicht dringend genug warnen, weil es die Grundlagen der
Philosophie zerstört. Eine kurze Charakteristik desselben wird die Berechtigung
Zu diesem scharfen Urtheil erhärten. Der Punkt, von dem aus der empirische
Realismus mit einem Blick überschaut werden kann, ist die Beantwortung der
Frage Kant's: Wie sind synthetische Urtheile (d. h. Urtheile, in welchen der
Prädikatsbegriff nicht im Subjektsbegriff enthalten ist und doch mit ihm in
einer nothwendigen Verknüpfung steht) a xriori möglich. Kant hatte die Lösung
dieses Problems darin gefunden, daß er reine, von jeder Erfahrung unabhän¬
gige und diese erst ermöglichende Vernunftformen annahm, wie Raum und
Zeit für äußere und innere Anschauung, wie den Begriff der Kausalität und
die davon abhängigen Begriffe. Der empirische Realismus setzt nun ebenfalls
solche apriorische Vernunftformen voraus, gibt ihnen aber keinen konstitutiven,
sondern nur einen regulativen Werth, indem er nicht durch sie, sondern dnrch
äußere und innere Wahrnehmung die Erfahrung entstehen läßt. Und jene
Formen sind ihm nur dazu da, über dem Wahrgenommenen schwebenden Gei¬
stern vergleichbar, diesem reinen Erfahrungsinhalt eine idealere Weihe zu geben.
In der Natur aber gibt es keine Kausalität als gegenständliche Eigenschaft der
Dinge, sie ist nichts Wirkliches und Seiendes, sondern nur ein subjektives Jn-
beziehungsetzen zweier regelmäßig auf einander folgender Naturereignisse. Die
aus diesen Formen hervorgehenden allgemein giltigen Urtheile sind daher auch
keine Naturgesetze im strengen Sinne des Wortes, da alles, was Naturinhalt
lst, nur durch die Wahrnehmung angeeignet wird. Es ist die Wahrnehmung,
die das Seiende in Raum und Zeit in sich aufnimmt, der sich das körperliche
und seelische Sein erschließt. Das körperliche Sein wird durch die Empfin¬
dungen der Sinne wahrgenommen.

Machen wir hier einen Augenblick Halt, um die Frage auszuwerfen, welche
Bürgschaft wir haben, daß die Summe von Affektionen der Sinne, durch welche
un'r das körperliche Sein erfassen, in der That mit demselben-identisch ist.
Wir können, streng denkend, nicht weiter kommen, als bis zu dem Satze: Ver¬
möge der eigenthümlichen Organisation unserer Sinne stellt sich uns dies be¬
stimmte Weltbild dar? mit anderen Worten: es ist eine Erscheinung, über deren
Sinn und Bedeutung uns der empirische Realismus keine Aufklärung geben
kann. Aber wir gehen weiter. Wie steht es mit der Wahrnehmung des seeli¬
schen Seins? Dieselbe ist eine eigene Selbsterkenntniß, ein Eigenbewußtsein
der im Bewußtsein auftretenden Qualitäten, das bei gehöriger Intensität


^chen Systems, das in der vorliegenden bestimmten Gestalt I. H. v. Kirchmann
zum Urheber hat. Wer sich über dasselbe orientiren will, dem kann die Schrift
Wolfs's durchaus empfohlen werden, zumal da sie durch Klarheit, Faßlichkeit
und Leichtigkeit der Schreibweise sich auszeichnet. Vor dem System selbst frei¬
lich können wir nicht dringend genug warnen, weil es die Grundlagen der
Philosophie zerstört. Eine kurze Charakteristik desselben wird die Berechtigung
Zu diesem scharfen Urtheil erhärten. Der Punkt, von dem aus der empirische
Realismus mit einem Blick überschaut werden kann, ist die Beantwortung der
Frage Kant's: Wie sind synthetische Urtheile (d. h. Urtheile, in welchen der
Prädikatsbegriff nicht im Subjektsbegriff enthalten ist und doch mit ihm in
einer nothwendigen Verknüpfung steht) a xriori möglich. Kant hatte die Lösung
dieses Problems darin gefunden, daß er reine, von jeder Erfahrung unabhän¬
gige und diese erst ermöglichende Vernunftformen annahm, wie Raum und
Zeit für äußere und innere Anschauung, wie den Begriff der Kausalität und
die davon abhängigen Begriffe. Der empirische Realismus setzt nun ebenfalls
solche apriorische Vernunftformen voraus, gibt ihnen aber keinen konstitutiven,
sondern nur einen regulativen Werth, indem er nicht durch sie, sondern dnrch
äußere und innere Wahrnehmung die Erfahrung entstehen läßt. Und jene
Formen sind ihm nur dazu da, über dem Wahrgenommenen schwebenden Gei¬
stern vergleichbar, diesem reinen Erfahrungsinhalt eine idealere Weihe zu geben.
In der Natur aber gibt es keine Kausalität als gegenständliche Eigenschaft der
Dinge, sie ist nichts Wirkliches und Seiendes, sondern nur ein subjektives Jn-
beziehungsetzen zweier regelmäßig auf einander folgender Naturereignisse. Die
aus diesen Formen hervorgehenden allgemein giltigen Urtheile sind daher auch
keine Naturgesetze im strengen Sinne des Wortes, da alles, was Naturinhalt
lst, nur durch die Wahrnehmung angeeignet wird. Es ist die Wahrnehmung,
die das Seiende in Raum und Zeit in sich aufnimmt, der sich das körperliche
und seelische Sein erschließt. Das körperliche Sein wird durch die Empfin¬
dungen der Sinne wahrgenommen.

Machen wir hier einen Augenblick Halt, um die Frage auszuwerfen, welche
Bürgschaft wir haben, daß die Summe von Affektionen der Sinne, durch welche
un'r das körperliche Sein erfassen, in der That mit demselben-identisch ist.
Wir können, streng denkend, nicht weiter kommen, als bis zu dem Satze: Ver¬
möge der eigenthümlichen Organisation unserer Sinne stellt sich uns dies be¬
stimmte Weltbild dar? mit anderen Worten: es ist eine Erscheinung, über deren
Sinn und Bedeutung uns der empirische Realismus keine Aufklärung geben
kann. Aber wir gehen weiter. Wie steht es mit der Wahrnehmung des seeli¬
schen Seins? Dieselbe ist eine eigene Selbsterkenntniß, ein Eigenbewußtsein
der im Bewußtsein auftretenden Qualitäten, das bei gehöriger Intensität


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/247>, abgerufen am 15.05.2024.