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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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mit der Zahl der Bevölkerung nicht blos die gerade Zahl der Kräfte, sondern
zugleich der Reichthum und die Mannichfaltigkeit der Individualitäten. Es
wird also auch hier die Quantität von der Qualität bestimmt. Bei dem Um¬
fange der statistischen Forschungen über die Erscheinung der menschlichen Ge¬
sellschaft drängt sich uns aber doch mehr und mehr die Ueberzeugung auf, daß
eine gewisse Anhäufung bedingender äußerer Ursachen, eine gewisse Dauer be¬
stimmter sozialer Bedingungen die physischen Gesetze der Erblichkeit in Thätig¬
keit setzen und in ganzen Geschlechtern, bis auf wenige Ausnahmen, die Kraft,
das Virus des freien menschlichen Willens auslöschen können. Es gilt auch
hier in moralischer Beziehung, was Virchow in naturwissenschaftlicher sagt,
daß "die Pathologie die Physiologie erleuchtet".

Angesichts solcher Erscheinungen hat die svzialbiologische Statistik ganz
neue Wege einzuschlagen. Es genügt nicht, wie Stuart Mill es thut, zu kon-
statiren, daß der menschliche Wille auch gegen eine "See von Plagen" noch
widerstandsmächtig sei und den Charakter bilden könne. Der ernste und
scharfsinnige Moralphilosoph kann in den Arbeitshäusern seines eignen Landes
erfahren, daß es dort "Paupers" gibt, das heißt ganze Geschlechter von Fami¬
lien, welche die wirthschaftliche Kraft verloren haben, für ihren eignen Erwerb
zu sorgen, welche thatsächlich eine herabgekommene niedrigere Race konstituiren.
Welche Wege hat nun die Statistik hier einzuschlagen? Die Autwort ist nicht
leicht. Das Hauptgewicht liegt in der richtigen Fragestellung, und zu dieser
ist nur' der Berufene befähigt. Der Statistiker als solcher kann aber nicht
die Befähigung aller Berufsarten in sich vereinigen; und zur Fragestellung
auf diesem Gebiete der gesellschaftlichen Forschung gehört, was die Befähigung
betrifft, gewiß mehr als eine Berufsart. Es ist ja auch der Mißbrauch nicht
ausgeschlossen, der von einseitiger Parteinahme mit der Statistik getrieben wird,
und den ein geistreicher Arzt drastisch so ausgedrückt hat: "Die Statistik ist
eine öffentliche Dirne, oder eine reine Jungfrau; es kommt nur darauf an,
in welche Hände sie kommt." Die richtige Fragestellung ist auf diesem Felde
der Statistik so wichtig, weil die Antworten zugleich die Heilmittel der Uebel
anzeigen. Drei hervortretende Faktoren werden hier zu beachten sein, die Erb¬
lichkeitsgesetze, die Erziehung von Haus und Schule in den ersten Dezennien
des Lebens und die Einflüsse der sozialen und wirthschaftlichen Lebenslage.
Zur richtigen Fragestellung berufen wären danach, was Kenntniß und Er¬
fahrung betrifft, vor allem Aerzte und Physiologen, Lehrer und Verwaltungs¬
beamte.

Um das. worauf wir hinzielen, klar zu machen, wollen wir ein Beispiel
anführen, das unserer Ansicht nach viel zu wenig Beachtung und Nachfolge
in den statistischen Forschungen gefunden hat. Es ist in einem in New-York


mit der Zahl der Bevölkerung nicht blos die gerade Zahl der Kräfte, sondern
zugleich der Reichthum und die Mannichfaltigkeit der Individualitäten. Es
wird also auch hier die Quantität von der Qualität bestimmt. Bei dem Um¬
fange der statistischen Forschungen über die Erscheinung der menschlichen Ge¬
sellschaft drängt sich uns aber doch mehr und mehr die Ueberzeugung auf, daß
eine gewisse Anhäufung bedingender äußerer Ursachen, eine gewisse Dauer be¬
stimmter sozialer Bedingungen die physischen Gesetze der Erblichkeit in Thätig¬
keit setzen und in ganzen Geschlechtern, bis auf wenige Ausnahmen, die Kraft,
das Virus des freien menschlichen Willens auslöschen können. Es gilt auch
hier in moralischer Beziehung, was Virchow in naturwissenschaftlicher sagt,
daß „die Pathologie die Physiologie erleuchtet".

Angesichts solcher Erscheinungen hat die svzialbiologische Statistik ganz
neue Wege einzuschlagen. Es genügt nicht, wie Stuart Mill es thut, zu kon-
statiren, daß der menschliche Wille auch gegen eine „See von Plagen" noch
widerstandsmächtig sei und den Charakter bilden könne. Der ernste und
scharfsinnige Moralphilosoph kann in den Arbeitshäusern seines eignen Landes
erfahren, daß es dort „Paupers" gibt, das heißt ganze Geschlechter von Fami¬
lien, welche die wirthschaftliche Kraft verloren haben, für ihren eignen Erwerb
zu sorgen, welche thatsächlich eine herabgekommene niedrigere Race konstituiren.
Welche Wege hat nun die Statistik hier einzuschlagen? Die Autwort ist nicht
leicht. Das Hauptgewicht liegt in der richtigen Fragestellung, und zu dieser
ist nur' der Berufene befähigt. Der Statistiker als solcher kann aber nicht
die Befähigung aller Berufsarten in sich vereinigen; und zur Fragestellung
auf diesem Gebiete der gesellschaftlichen Forschung gehört, was die Befähigung
betrifft, gewiß mehr als eine Berufsart. Es ist ja auch der Mißbrauch nicht
ausgeschlossen, der von einseitiger Parteinahme mit der Statistik getrieben wird,
und den ein geistreicher Arzt drastisch so ausgedrückt hat: „Die Statistik ist
eine öffentliche Dirne, oder eine reine Jungfrau; es kommt nur darauf an,
in welche Hände sie kommt." Die richtige Fragestellung ist auf diesem Felde
der Statistik so wichtig, weil die Antworten zugleich die Heilmittel der Uebel
anzeigen. Drei hervortretende Faktoren werden hier zu beachten sein, die Erb¬
lichkeitsgesetze, die Erziehung von Haus und Schule in den ersten Dezennien
des Lebens und die Einflüsse der sozialen und wirthschaftlichen Lebenslage.
Zur richtigen Fragestellung berufen wären danach, was Kenntniß und Er¬
fahrung betrifft, vor allem Aerzte und Physiologen, Lehrer und Verwaltungs¬
beamte.

Um das. worauf wir hinzielen, klar zu machen, wollen wir ein Beispiel
anführen, das unserer Ansicht nach viel zu wenig Beachtung und Nachfolge
in den statistischen Forschungen gefunden hat. Es ist in einem in New-York


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[0263] mit der Zahl der Bevölkerung nicht blos die gerade Zahl der Kräfte, sondern zugleich der Reichthum und die Mannichfaltigkeit der Individualitäten. Es wird also auch hier die Quantität von der Qualität bestimmt. Bei dem Um¬ fange der statistischen Forschungen über die Erscheinung der menschlichen Ge¬ sellschaft drängt sich uns aber doch mehr und mehr die Ueberzeugung auf, daß eine gewisse Anhäufung bedingender äußerer Ursachen, eine gewisse Dauer be¬ stimmter sozialer Bedingungen die physischen Gesetze der Erblichkeit in Thätig¬ keit setzen und in ganzen Geschlechtern, bis auf wenige Ausnahmen, die Kraft, das Virus des freien menschlichen Willens auslöschen können. Es gilt auch hier in moralischer Beziehung, was Virchow in naturwissenschaftlicher sagt, daß „die Pathologie die Physiologie erleuchtet". Angesichts solcher Erscheinungen hat die svzialbiologische Statistik ganz neue Wege einzuschlagen. Es genügt nicht, wie Stuart Mill es thut, zu kon- statiren, daß der menschliche Wille auch gegen eine „See von Plagen" noch widerstandsmächtig sei und den Charakter bilden könne. Der ernste und scharfsinnige Moralphilosoph kann in den Arbeitshäusern seines eignen Landes erfahren, daß es dort „Paupers" gibt, das heißt ganze Geschlechter von Fami¬ lien, welche die wirthschaftliche Kraft verloren haben, für ihren eignen Erwerb zu sorgen, welche thatsächlich eine herabgekommene niedrigere Race konstituiren. Welche Wege hat nun die Statistik hier einzuschlagen? Die Autwort ist nicht leicht. Das Hauptgewicht liegt in der richtigen Fragestellung, und zu dieser ist nur' der Berufene befähigt. Der Statistiker als solcher kann aber nicht die Befähigung aller Berufsarten in sich vereinigen; und zur Fragestellung auf diesem Gebiete der gesellschaftlichen Forschung gehört, was die Befähigung betrifft, gewiß mehr als eine Berufsart. Es ist ja auch der Mißbrauch nicht ausgeschlossen, der von einseitiger Parteinahme mit der Statistik getrieben wird, und den ein geistreicher Arzt drastisch so ausgedrückt hat: „Die Statistik ist eine öffentliche Dirne, oder eine reine Jungfrau; es kommt nur darauf an, in welche Hände sie kommt." Die richtige Fragestellung ist auf diesem Felde der Statistik so wichtig, weil die Antworten zugleich die Heilmittel der Uebel anzeigen. Drei hervortretende Faktoren werden hier zu beachten sein, die Erb¬ lichkeitsgesetze, die Erziehung von Haus und Schule in den ersten Dezennien des Lebens und die Einflüsse der sozialen und wirthschaftlichen Lebenslage. Zur richtigen Fragestellung berufen wären danach, was Kenntniß und Er¬ fahrung betrifft, vor allem Aerzte und Physiologen, Lehrer und Verwaltungs¬ beamte. Um das. worauf wir hinzielen, klar zu machen, wollen wir ein Beispiel anführen, das unserer Ansicht nach viel zu wenig Beachtung und Nachfolge in den statistischen Forschungen gefunden hat. Es ist in einem in New-York

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/263>, abgerufen am 21.05.2024.