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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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den Hals gemalt. In dieser Progression vom Idyllischen zum Tragischen und
von da zum Gräßlich-schaurigen prägt sich ein gut Theil der Entwickelungs¬
geschichte der modernen Malerei in Deutschland aus, wenn man anders die
sonderbare Kunsterscheimmg, die sich in dem Schöpfer des "Gretchens", des
"Christuskopfes" und der "Kindesmörderin" verkörpert, nicht kurzer Hand aus
der Kunstgeschichte in die Kuriositätenkabinette oder gar in das Gebiet der
Pathologie verweisen will.

Gabriel Max hat mit diesem "Gretchen" übrigens nicht einmal etwas
originelles geschaffen. Ary Scheffer ist ihm auch auf diesen: Gebiete voran¬
gegangen, der Mann mit den "todmüden Farben" und den "unheimlich vagen
Umrissen", wie ihn Heine so unübertrefflich charakterisirt hat. Ary Scheffer
hat 1846, also ein Vierteljahrhundert vor Gabriel Max, das Phantom der
Walpurgisnacht gemalt, "ein halbnacktes Gespenst mit weichen hängenden Formen,
das nichts gemein hat mit dem ,blassen, schönen Kind^ und nichts weniger als
den ,süßen Leib^ zeigt, den Faust genoß." Gabriel Max ist nicht so ungalant
mit dem armen Gretchen umgesprungen. Wenngleich die Worte, die Faust zu
Mephisto spricht, unzweifelhaft darauf hindeuten, daß Gretchen wie die anderen
Phantome des Blocksbergs unbekleidet erscheint, hat sich Max wohl gehütet,
dem Dichter hierin zu folgen. Abgesehen davon, daß ihm trotz seiner Bild¬
hauerstudien die plastische Modellirung des menschlichen Körpers, ja auch schon
die korrekte Zeichnung eine gewisse Pein verursacht, hätte er mit einem nackten
Gretchen gegen den guten Ton der modernen Gesellschaft verstoßen, der ihm
über alles geht, weil ihm ihr Beifall seine Erfolge sichert. So ist aus seinem
Gretchen ein zahmes Pensionsfräulein geworden, das sich einmal vergangen
hat und nun so grausamlich bestraft wird. Ein seltsamer, eigenthümlich prickeln¬
der Schauer überläuft den Rücken der Zuschauer, die eine so durchaus moderne,
aus der neuesten Gesellschaft herausgegriffene Erscheinung in einer so peinlichen
und fatalen Situation erblicken.

In Wien war das Gretchen blos "ausgestellt"; unter der Menge machte
es nicht den gewünschten Effekt. Das wurde später anders. Ein Kunsthändler
bemächtigte sich des Bildes. Er sah mit richtigem Blick und richtiger Erkennt¬
niß des modernen Geschmacks, daß mit einer bloßen Ausstellung nichts gethan
war. Das Gemälde mußte nach allen Regeln der Kunst "inszenirt" werden.
Zu diesem Zwecke wurden, ähnlich wie in den anatomischen Museen die eeckinsts
süxai-us und in dem Pcmoptikum die Schreckenskammer, die geschlossenen Zimmer
erfunden. In den Jahren 1876 und 77 machte das Bild in solcher Jnszenirung
seine Runde durch die Hauptstädte Oesterreich's und Deutschland's. Ich sah das
Bild in Berlin wieder, wo es der "Verein Berliner Künstler" unter seine Pro¬
tektion genommen hat. Daß auch diese ehrenwerthe Körperschaft zu dem Hum-


den Hals gemalt. In dieser Progression vom Idyllischen zum Tragischen und
von da zum Gräßlich-schaurigen prägt sich ein gut Theil der Entwickelungs¬
geschichte der modernen Malerei in Deutschland aus, wenn man anders die
sonderbare Kunsterscheimmg, die sich in dem Schöpfer des „Gretchens", des
„Christuskopfes" und der „Kindesmörderin" verkörpert, nicht kurzer Hand aus
der Kunstgeschichte in die Kuriositätenkabinette oder gar in das Gebiet der
Pathologie verweisen will.

Gabriel Max hat mit diesem „Gretchen" übrigens nicht einmal etwas
originelles geschaffen. Ary Scheffer ist ihm auch auf diesen: Gebiete voran¬
gegangen, der Mann mit den „todmüden Farben" und den „unheimlich vagen
Umrissen", wie ihn Heine so unübertrefflich charakterisirt hat. Ary Scheffer
hat 1846, also ein Vierteljahrhundert vor Gabriel Max, das Phantom der
Walpurgisnacht gemalt, „ein halbnacktes Gespenst mit weichen hängenden Formen,
das nichts gemein hat mit dem ,blassen, schönen Kind^ und nichts weniger als
den ,süßen Leib^ zeigt, den Faust genoß." Gabriel Max ist nicht so ungalant
mit dem armen Gretchen umgesprungen. Wenngleich die Worte, die Faust zu
Mephisto spricht, unzweifelhaft darauf hindeuten, daß Gretchen wie die anderen
Phantome des Blocksbergs unbekleidet erscheint, hat sich Max wohl gehütet,
dem Dichter hierin zu folgen. Abgesehen davon, daß ihm trotz seiner Bild¬
hauerstudien die plastische Modellirung des menschlichen Körpers, ja auch schon
die korrekte Zeichnung eine gewisse Pein verursacht, hätte er mit einem nackten
Gretchen gegen den guten Ton der modernen Gesellschaft verstoßen, der ihm
über alles geht, weil ihm ihr Beifall seine Erfolge sichert. So ist aus seinem
Gretchen ein zahmes Pensionsfräulein geworden, das sich einmal vergangen
hat und nun so grausamlich bestraft wird. Ein seltsamer, eigenthümlich prickeln¬
der Schauer überläuft den Rücken der Zuschauer, die eine so durchaus moderne,
aus der neuesten Gesellschaft herausgegriffene Erscheinung in einer so peinlichen
und fatalen Situation erblicken.

In Wien war das Gretchen blos „ausgestellt"; unter der Menge machte
es nicht den gewünschten Effekt. Das wurde später anders. Ein Kunsthändler
bemächtigte sich des Bildes. Er sah mit richtigem Blick und richtiger Erkennt¬
niß des modernen Geschmacks, daß mit einer bloßen Ausstellung nichts gethan
war. Das Gemälde mußte nach allen Regeln der Kunst „inszenirt" werden.
Zu diesem Zwecke wurden, ähnlich wie in den anatomischen Museen die eeckinsts
süxai-us und in dem Pcmoptikum die Schreckenskammer, die geschlossenen Zimmer
erfunden. In den Jahren 1876 und 77 machte das Bild in solcher Jnszenirung
seine Runde durch die Hauptstädte Oesterreich's und Deutschland's. Ich sah das
Bild in Berlin wieder, wo es der „Verein Berliner Künstler" unter seine Pro¬
tektion genommen hat. Daß auch diese ehrenwerthe Körperschaft zu dem Hum-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/27>, abgerufen am 21.05.2024.