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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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der Mißerfolg der Versuche gelegen haben mag, auf dem letzteren vorwärts
zu kommen, sicher hat man ihn nicht vollkommen aufgegeben. In dieser Hin¬
sicht besteht ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen derjenigen russischen
Politik, welche ihren Abschlußpunkt in dem Präliminarfrieden von San
Stefano (3. März 1878) gefunden hat, und der heutigen. Jene befand sich
durchaus in der ersteren Richtung engagirt. Ihr entschiedenster Leiter und
Wortredner war General Jgnatieff, der bekannte russische Diplomat, welcher
vor dem letzten Kriege lange Jahre hindurch als Botschafter des Czaren bei
der Pforte maßgebenden Einfluß auf die Stellung Rußland's im Orient aus¬
geübt und schließlich seinerseits wesentlich den Ausbruch des Konflikts herbei¬
geführt hat. Ein Verbleiben auf dieser Bahn nach dem Vertrage von San
Stefano hätte unfehlbar zum europäischen Kriege, zunächst zu einem russisch¬
britisch-türkischen, geführt. In dieser Voraussicht lag für das Se. Petersburger
Kabinet damals das bestimmende Motiv zur Umkehr. Dabei bleibt es schwer,
auch nur annähernd sicher zu ermitteln, wie Rußland hente zu der Weiter¬
entwickelung der hiesigen Dinge Stellung zu nehmen gedenkt, und namentlich
in welcher Weise es glaubt gewissen Forderungen Nachdruck geben zu können,
über deren Berechtigung, so weit sie durch den Traktats-Wortlaut allein be¬
dingt ist, nicht füglich irgend ein Zweifel bestehen kann. Es gehört dazu vor
Allem die in voller Form Rechtens für den Czaren stipulirte Befugniß, auf einer
ihm durch die Türkei zu zahlenden Kriegsentschädigung im Betrage von 300
Millionen Franks zu bestehen. Daß man diese Bedingung in den definitiven
Friedensvertrag vom 8. Februar dieses Jahres aufgenommen hat, obgleich
beide Theile im voraus wissen und sich darüber vollkommen klar sein mußten,
daß sie unter keinen Umständen von der Pforte erfüllt werden könne, ist
allermindestens sehr bezeichnend. So weit sich die Sache heute absehen läßt,
wird Rußland zunächst nichts thun, um seiner formell berechtigten, aber zu
dem Leistungsvermögen des osmanischen Finanzwesens außer allem Verhältniß
stehenden Forderung Nachdruck zu geben. Allein augenscheinlich behält es sich
vor, die Angelegenheit in einem späteren, geeigneteren Moment zur Sprache
zu bringen, wie sie ihm denn überhaupt als ein Hebel gilt, den es gelegentlich
anzusetzen nicht versäumen wird. Daß man bis jetzt alle Vereinbarungen in
Betreff der Verzinsung dieser Schuldsumme umgangen, diese hochwichtige
Frage unerledigt gelassen hat, dürfte sich nicht mit der Unmöglichkeit allein
erklären lassen, in der die Pforte sich befindet, einer derartigen Verbindlichkeit
nachzukommen. Da den früheren, durch den osmanischen Staatsschatz kontra-
hirten Schulden eine Priorität vor der russischen Forderung zugestanden wor¬
den ist, so erstreckt sich dieses Vorrecht derselben auch auf die Zinszahlungen,
und Rußland kann wegen der letzteren einen Anspruch auf Befriedigung nicht


der Mißerfolg der Versuche gelegen haben mag, auf dem letzteren vorwärts
zu kommen, sicher hat man ihn nicht vollkommen aufgegeben. In dieser Hin¬
sicht besteht ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen derjenigen russischen
Politik, welche ihren Abschlußpunkt in dem Präliminarfrieden von San
Stefano (3. März 1878) gefunden hat, und der heutigen. Jene befand sich
durchaus in der ersteren Richtung engagirt. Ihr entschiedenster Leiter und
Wortredner war General Jgnatieff, der bekannte russische Diplomat, welcher
vor dem letzten Kriege lange Jahre hindurch als Botschafter des Czaren bei
der Pforte maßgebenden Einfluß auf die Stellung Rußland's im Orient aus¬
geübt und schließlich seinerseits wesentlich den Ausbruch des Konflikts herbei¬
geführt hat. Ein Verbleiben auf dieser Bahn nach dem Vertrage von San
Stefano hätte unfehlbar zum europäischen Kriege, zunächst zu einem russisch¬
britisch-türkischen, geführt. In dieser Voraussicht lag für das Se. Petersburger
Kabinet damals das bestimmende Motiv zur Umkehr. Dabei bleibt es schwer,
auch nur annähernd sicher zu ermitteln, wie Rußland hente zu der Weiter¬
entwickelung der hiesigen Dinge Stellung zu nehmen gedenkt, und namentlich
in welcher Weise es glaubt gewissen Forderungen Nachdruck geben zu können,
über deren Berechtigung, so weit sie durch den Traktats-Wortlaut allein be¬
dingt ist, nicht füglich irgend ein Zweifel bestehen kann. Es gehört dazu vor
Allem die in voller Form Rechtens für den Czaren stipulirte Befugniß, auf einer
ihm durch die Türkei zu zahlenden Kriegsentschädigung im Betrage von 300
Millionen Franks zu bestehen. Daß man diese Bedingung in den definitiven
Friedensvertrag vom 8. Februar dieses Jahres aufgenommen hat, obgleich
beide Theile im voraus wissen und sich darüber vollkommen klar sein mußten,
daß sie unter keinen Umständen von der Pforte erfüllt werden könne, ist
allermindestens sehr bezeichnend. So weit sich die Sache heute absehen läßt,
wird Rußland zunächst nichts thun, um seiner formell berechtigten, aber zu
dem Leistungsvermögen des osmanischen Finanzwesens außer allem Verhältniß
stehenden Forderung Nachdruck zu geben. Allein augenscheinlich behält es sich
vor, die Angelegenheit in einem späteren, geeigneteren Moment zur Sprache
zu bringen, wie sie ihm denn überhaupt als ein Hebel gilt, den es gelegentlich
anzusetzen nicht versäumen wird. Daß man bis jetzt alle Vereinbarungen in
Betreff der Verzinsung dieser Schuldsumme umgangen, diese hochwichtige
Frage unerledigt gelassen hat, dürfte sich nicht mit der Unmöglichkeit allein
erklären lassen, in der die Pforte sich befindet, einer derartigen Verbindlichkeit
nachzukommen. Da den früheren, durch den osmanischen Staatsschatz kontra-
hirten Schulden eine Priorität vor der russischen Forderung zugestanden wor¬
den ist, so erstreckt sich dieses Vorrecht derselben auch auf die Zinszahlungen,
und Rußland kann wegen der letzteren einen Anspruch auf Befriedigung nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/290>, abgerufen am 22.05.2024.