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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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wegeilte Leben von dem innerhalb jener sich regenden niemals ganz geschieden
werden.

Nie galt jemand aus dem Grunde sür einen großen Politiker, weil er
neue Gesetze ersann oder schon bestehende gewissenhaft beachtete. Die Völker
haben den Werth des Mannes stets in anderen Dingen gefunden, und das
Ansehen des Gesetzgebers selbst gründete sich nicht darauf, daß er sich mit den
bereits vorhandenen Gesetzen in Uebereinstimmung befand, sondern darauf, daß
er Gedanken, die bisher noch nicht Gesetz, also nicht Gegenstand der Rechtspflege
waren, wohl aber dringende Bedürfnisse einschlossen, dadurch zur Geltung
brachte, daß er sie zu Gesetzen erhob. Ferner hat der Staat oft vergebens
versucht, ihm gefährliche Dinge durch Gesetz und Gericht zu bewältigen. Wie
wenig können letztere gegen schwindelhafte Spekulationen und gegen den Wucher
und andererseits für glückliche Ehen, gute Kindererziehung und tüchtige Vor¬
mundschaften thun!

Wir geben mit Held zu, daß zwischen der Verwaltung und den beiden
anderen Zweigen der Staatsgewalt in der Aemterorganisation unterschieden
werden muß, und daß das Gebiet der eigentlichen Gesetzgebung im Verhältniß
zur administrativen Verfügung und das der Justiz im Verhältniß zur Erledi¬
gung der Dinge nach Verwaltungsrücksichten noch der Erweiterung fähig ist,
leugnen aber ebenso mit ihm, daß "in irgend einem Stadium der Staatsent¬
wickelung eine äußere Unterscheidung haarscharf durchgeführt werden kann, daß
ein entschiedener Fortschritt des Staates in der Erweiterung des Gebietes der
Gesetzgebung und Justiz ohne gleichmäßige Erweiterung des Verwaltungsge¬
bietes zu denken ist, und daß das Gebiet der Gesetzgebung so vollständig aus¬
gebildet zu werden vermag, daß in allen denkbaren Kollisionen zwischen dem
Staat und den Einzelnen eine reine justizielle Entscheidung gegeben wird."

Der Staat, in welchem nur der Gedanke an die individuelle Freiheit und
deren Schutz herrscht, ist ebenso verloren wie der, welcher nur von dem Macht¬
gedanken der Herrschenden erfüllt ist. Die Freiheit der Einzelnen und die
Macht des Ganzen müssen in gleichen Verhältnissen bestehen und gesteigert
werden; denn das Individuum nimmt aus der Gesellschaft so viel, als es in
dieselbe abgibt, und umgekehrt. Wenn sich also auch überall ein Unterschied
zwischen der Rechts- und der Verwaltungssphäre zeigt, so kann derselbe doch
niemals ohne die höhere Einheit beider in der Regierung gedacht werden.
Daher sind auch administrativ-kontentiöse Sachen unvermeidlich, weil viele
Sachen nur vorwiegend Rechts- oder Verwaltungssache sind, und weil selbst
da, wo sie dies vollständig sind, möglicherweise darüber gestritten wird, ob dies
wirklich der Fall, und ob also die Gerichte oder die Verwaltungsbehörden über
sie zu entscheiden haben.


wegeilte Leben von dem innerhalb jener sich regenden niemals ganz geschieden
werden.

Nie galt jemand aus dem Grunde sür einen großen Politiker, weil er
neue Gesetze ersann oder schon bestehende gewissenhaft beachtete. Die Völker
haben den Werth des Mannes stets in anderen Dingen gefunden, und das
Ansehen des Gesetzgebers selbst gründete sich nicht darauf, daß er sich mit den
bereits vorhandenen Gesetzen in Uebereinstimmung befand, sondern darauf, daß
er Gedanken, die bisher noch nicht Gesetz, also nicht Gegenstand der Rechtspflege
waren, wohl aber dringende Bedürfnisse einschlossen, dadurch zur Geltung
brachte, daß er sie zu Gesetzen erhob. Ferner hat der Staat oft vergebens
versucht, ihm gefährliche Dinge durch Gesetz und Gericht zu bewältigen. Wie
wenig können letztere gegen schwindelhafte Spekulationen und gegen den Wucher
und andererseits für glückliche Ehen, gute Kindererziehung und tüchtige Vor¬
mundschaften thun!

Wir geben mit Held zu, daß zwischen der Verwaltung und den beiden
anderen Zweigen der Staatsgewalt in der Aemterorganisation unterschieden
werden muß, und daß das Gebiet der eigentlichen Gesetzgebung im Verhältniß
zur administrativen Verfügung und das der Justiz im Verhältniß zur Erledi¬
gung der Dinge nach Verwaltungsrücksichten noch der Erweiterung fähig ist,
leugnen aber ebenso mit ihm, daß „in irgend einem Stadium der Staatsent¬
wickelung eine äußere Unterscheidung haarscharf durchgeführt werden kann, daß
ein entschiedener Fortschritt des Staates in der Erweiterung des Gebietes der
Gesetzgebung und Justiz ohne gleichmäßige Erweiterung des Verwaltungsge¬
bietes zu denken ist, und daß das Gebiet der Gesetzgebung so vollständig aus¬
gebildet zu werden vermag, daß in allen denkbaren Kollisionen zwischen dem
Staat und den Einzelnen eine reine justizielle Entscheidung gegeben wird."

Der Staat, in welchem nur der Gedanke an die individuelle Freiheit und
deren Schutz herrscht, ist ebenso verloren wie der, welcher nur von dem Macht¬
gedanken der Herrschenden erfüllt ist. Die Freiheit der Einzelnen und die
Macht des Ganzen müssen in gleichen Verhältnissen bestehen und gesteigert
werden; denn das Individuum nimmt aus der Gesellschaft so viel, als es in
dieselbe abgibt, und umgekehrt. Wenn sich also auch überall ein Unterschied
zwischen der Rechts- und der Verwaltungssphäre zeigt, so kann derselbe doch
niemals ohne die höhere Einheit beider in der Regierung gedacht werden.
Daher sind auch administrativ-kontentiöse Sachen unvermeidlich, weil viele
Sachen nur vorwiegend Rechts- oder Verwaltungssache sind, und weil selbst
da, wo sie dies vollständig sind, möglicherweise darüber gestritten wird, ob dies
wirklich der Fall, und ob also die Gerichte oder die Verwaltungsbehörden über
sie zu entscheiden haben.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/87>, abgerufen am 14.06.2024.