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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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nichtig, von der andern für giltig erklärt werden? Und kann die Entscheidung,
wenn sie schließlich erfolgt, eine richterliche, muß sie nicht vielmehr stets eine
politische sein?

Ein Gesetz ist null und nichtig, wenn es in einer Form und mit einem
Inhalt erlassen wird, durch welche es nach ausdrücklicher Vorschrift des geltenden
Verfassungsrechtes ungiltig ist. Der Zweck solcher Vorschriften ist, gewissen
Grnndbestünmungen der Verfassung den Charakter des unbedingt Unver¬
änderlichen zu geben. Allein auch die Rechtsstaatsidee kann dem Rechte diese
Eigenschaft nicht verleihen. Alles Recht ist veränderbar, und so kann keine
rechtliche Einrichtung blos dadurch, daß ein Gesetz jede Abänderung derselben
nichtig nennt, unveränderbar werden. Das Bedürfniß kehrt sich an solche
Klauseln nicht, und die formellen Grenzen des Rechtes sind bei ernstlichem
Aufeinanderstoßen derselben mit der Macht der Umstände entweder schon zer¬
stört oder doch bald gebrochen. Unsterblich ist nur die Idee des Rechtes,
nicht die konkrete Verwirklichung desselben, die vielmehr immer von
neuem an anderen Bedürfnissen stirbt, um dann mit diesen verschmolzen, in
ihnen aufgehoben in anderer Gestalt und mit reicherem Gehalt wieder auf¬
zuleben.

Was endlich die Anfechtbarkeit der Gesetze betrifft, so läßt sich in den
meisten Fällen nicht feststellen, ob und wie weit der Wille des Gesetzgebers
oder der mitwirkenden Faktoren ein durch Gewalt, Furcht oder Irrthum
wesentlich bestimmter und in Folge dessen mangelhafter gewesen ist. "Gewalt
und Furcht vor moralischer oder äußerer Pression sind," wie der wiederholt
angeführte Staatsrechtslehrer bemerkt, "begrifflich sehr verschieden, obgleich sie
Praktisch oft gar nicht unterschieden werden können. Der Irrthum des Gesetz¬
gebers aber kann nicht nach privat- oder strafrechtlichen Grundsätzen über die
Folgen des Irrthums behandelt werden, da bei jenem das Interesse des Staates
und nicht die persönliche Meinung nur als solche entscheiden muß. Sind aber
in Fällen, wo von Vergewaltigung, Furcht oder Irrthum des Gesetzgebers
gesprochen wird, immer auch anormale Zustände gegeben, und haben sich die
Rechtsschranken bereits als unwirksam oder doch ungenügend erwiesen, so ist
überdies zu beachten, daß heute dasjenige rechtmäßige Einwirkung sein kann,
was gestern rechtswidriger Zwang war, und daß die Zurücknahme einer formell
giltig ertheilten Sanktion in der Regel für Krone, Staat und Volk mehr
Bedenkliches haben wird als das kluge Abwarten des zu einer verfassungs¬
mäßigen Abänderung geeigneten Augenblickes. Immer wird nicht sowohl dem
formellen Recht als der rechten Politik die eigentliche Entscheidung bleiben,
die dann allerdings auch zu Gunsten des ersteren ausfallen kann."

Noch vieles ließe sich anführen, woraus hervorgehen würde, daß der


nichtig, von der andern für giltig erklärt werden? Und kann die Entscheidung,
wenn sie schließlich erfolgt, eine richterliche, muß sie nicht vielmehr stets eine
politische sein?

Ein Gesetz ist null und nichtig, wenn es in einer Form und mit einem
Inhalt erlassen wird, durch welche es nach ausdrücklicher Vorschrift des geltenden
Verfassungsrechtes ungiltig ist. Der Zweck solcher Vorschriften ist, gewissen
Grnndbestünmungen der Verfassung den Charakter des unbedingt Unver¬
änderlichen zu geben. Allein auch die Rechtsstaatsidee kann dem Rechte diese
Eigenschaft nicht verleihen. Alles Recht ist veränderbar, und so kann keine
rechtliche Einrichtung blos dadurch, daß ein Gesetz jede Abänderung derselben
nichtig nennt, unveränderbar werden. Das Bedürfniß kehrt sich an solche
Klauseln nicht, und die formellen Grenzen des Rechtes sind bei ernstlichem
Aufeinanderstoßen derselben mit der Macht der Umstände entweder schon zer¬
stört oder doch bald gebrochen. Unsterblich ist nur die Idee des Rechtes,
nicht die konkrete Verwirklichung desselben, die vielmehr immer von
neuem an anderen Bedürfnissen stirbt, um dann mit diesen verschmolzen, in
ihnen aufgehoben in anderer Gestalt und mit reicherem Gehalt wieder auf¬
zuleben.

Was endlich die Anfechtbarkeit der Gesetze betrifft, so läßt sich in den
meisten Fällen nicht feststellen, ob und wie weit der Wille des Gesetzgebers
oder der mitwirkenden Faktoren ein durch Gewalt, Furcht oder Irrthum
wesentlich bestimmter und in Folge dessen mangelhafter gewesen ist. „Gewalt
und Furcht vor moralischer oder äußerer Pression sind," wie der wiederholt
angeführte Staatsrechtslehrer bemerkt, „begrifflich sehr verschieden, obgleich sie
Praktisch oft gar nicht unterschieden werden können. Der Irrthum des Gesetz¬
gebers aber kann nicht nach privat- oder strafrechtlichen Grundsätzen über die
Folgen des Irrthums behandelt werden, da bei jenem das Interesse des Staates
und nicht die persönliche Meinung nur als solche entscheiden muß. Sind aber
in Fällen, wo von Vergewaltigung, Furcht oder Irrthum des Gesetzgebers
gesprochen wird, immer auch anormale Zustände gegeben, und haben sich die
Rechtsschranken bereits als unwirksam oder doch ungenügend erwiesen, so ist
überdies zu beachten, daß heute dasjenige rechtmäßige Einwirkung sein kann,
was gestern rechtswidriger Zwang war, und daß die Zurücknahme einer formell
giltig ertheilten Sanktion in der Regel für Krone, Staat und Volk mehr
Bedenkliches haben wird als das kluge Abwarten des zu einer verfassungs¬
mäßigen Abänderung geeigneten Augenblickes. Immer wird nicht sowohl dem
formellen Recht als der rechten Politik die eigentliche Entscheidung bleiben,
die dann allerdings auch zu Gunsten des ersteren ausfallen kann."

Noch vieles ließe sich anführen, woraus hervorgehen würde, daß der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/95>, abgerufen am 21.05.2024.