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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal.

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nicht geringen Theile an ihrer eigenen Beschaffenheit, an ihrer Verquickung mit
den oder jenen unannehmbaren Elementen -- so mit Orthodoxie oder Mystik,
wie bei dem späteren Schelling selbst, bei Stahl u. A. --, an der Einseitigkeit
und Schroffheit, mit der sie, im Kampfe mit der Nothwendigkeitslehre, auch
ihrerseits wieder in Extreme und Undenkbarkeiten verfielen. Und in der Zwi¬
schenzeit hatten ganz anderartige Denk- und Lebensrichtungen den "Schatten
breitgesessen" unter dem Baume, unter dem jene sich gern gelagert hätten. Die
auf praktisches Wirken und Schaffen sich immer entschiedener hinwendende Zeit
schien dem Idealismus, der das Leben im Denken und Dichten fand, für immer
den Athem zu versetzen.

Allein eben dieser letzterwähnte Umstand trug einen bis dahin über Ge¬
bühr vernachlässigten Denker an die Oberfläche des Zeitbewußtseins empor,
dessen Lehre gleichfalls zu den Philosophieen der freien That oder des an keine
Vernunft gebundenen "Willens" gehörte. Schopenhauer wurde für das
Jahrzehnt von 1850--1860 und darüber hinaus zum Messias der verstimmten
und zurückgedrängten Idealisten und Romantiker. In ihm verkehrte sich das
Wort "Im Anfang war die That" zu dem Sinne des Pessimismus, wonach
eine Unthat, eine Missethat es gewesen, welche die Welt in's Dasein rief. In
dieser Verkehrung allein sollte die Philosophie der freien That in der Ent¬
wickelung des deutschen Geistes zunächst -- und sehr bald noch ein zweites
Mal -- Epoche machen.

Das Auftreten des Schopenhauer-Enthusiasmus, in dem Zeitraume zwi¬
schen den bitteren Enttäuschungen des Jahres 1849 und dem Wiederaufbrechen
nationaler Hoffnungen gegen die Mitte der sechziger Jahre, ist eine nach allen
Seiten leicht begreifliche Erscheinung. Es war nicht nur der alte philosophische
Idealismus, sondern zugleich der poetische und der politische, der jetzt mit
Leidwesen einer neuen Zeit sich gegenübergestellt fand, vor der er sich genöthigt
sah, grollend zurückzuweichen. Die politischen Erhebungen der letzten vierziger
Jahre, selbst noch aus romantischer Jugendpoesie geboren, hatten den verzwei¬
felten Versuch gemacht, den Bund mit den realen Aufgaben der wirklichen
Menschengeschichte und mit dem praktischen Drange der Zeit dadurch zu schließen,
daß die Träume der Burschenzeit ohne Weiteres in Wirklichkeit umgesetzt wurden.
Zwar hatte es den Anschein, als bedeute das Scheitern dieser Bestrebungen
nur den Triumph einer andern Art von Romantik, der mittelalterlich konser¬
vativen und frommen; der Geist der Geschichte liebt die Ironie: in Wahrheit
bedeutete jenes Scheitern den unbedingten Sieg der verständigen Nüchternheit
und illusionsfreien praktischen Erwägung, -- für den Idealisten und Roman¬
tiker, der sich nicht bekehren mochte oder konnte, den Sieg der Verzweifelung,
des Pessimismus. Gleichen Schritt mit den Niederlagen eines politischen


nicht geringen Theile an ihrer eigenen Beschaffenheit, an ihrer Verquickung mit
den oder jenen unannehmbaren Elementen — so mit Orthodoxie oder Mystik,
wie bei dem späteren Schelling selbst, bei Stahl u. A. —, an der Einseitigkeit
und Schroffheit, mit der sie, im Kampfe mit der Nothwendigkeitslehre, auch
ihrerseits wieder in Extreme und Undenkbarkeiten verfielen. Und in der Zwi¬
schenzeit hatten ganz anderartige Denk- und Lebensrichtungen den „Schatten
breitgesessen" unter dem Baume, unter dem jene sich gern gelagert hätten. Die
auf praktisches Wirken und Schaffen sich immer entschiedener hinwendende Zeit
schien dem Idealismus, der das Leben im Denken und Dichten fand, für immer
den Athem zu versetzen.

Allein eben dieser letzterwähnte Umstand trug einen bis dahin über Ge¬
bühr vernachlässigten Denker an die Oberfläche des Zeitbewußtseins empor,
dessen Lehre gleichfalls zu den Philosophieen der freien That oder des an keine
Vernunft gebundenen „Willens" gehörte. Schopenhauer wurde für das
Jahrzehnt von 1850—1860 und darüber hinaus zum Messias der verstimmten
und zurückgedrängten Idealisten und Romantiker. In ihm verkehrte sich das
Wort „Im Anfang war die That" zu dem Sinne des Pessimismus, wonach
eine Unthat, eine Missethat es gewesen, welche die Welt in's Dasein rief. In
dieser Verkehrung allein sollte die Philosophie der freien That in der Ent¬
wickelung des deutschen Geistes zunächst — und sehr bald noch ein zweites
Mal — Epoche machen.

Das Auftreten des Schopenhauer-Enthusiasmus, in dem Zeitraume zwi¬
schen den bitteren Enttäuschungen des Jahres 1849 und dem Wiederaufbrechen
nationaler Hoffnungen gegen die Mitte der sechziger Jahre, ist eine nach allen
Seiten leicht begreifliche Erscheinung. Es war nicht nur der alte philosophische
Idealismus, sondern zugleich der poetische und der politische, der jetzt mit
Leidwesen einer neuen Zeit sich gegenübergestellt fand, vor der er sich genöthigt
sah, grollend zurückzuweichen. Die politischen Erhebungen der letzten vierziger
Jahre, selbst noch aus romantischer Jugendpoesie geboren, hatten den verzwei¬
felten Versuch gemacht, den Bund mit den realen Aufgaben der wirklichen
Menschengeschichte und mit dem praktischen Drange der Zeit dadurch zu schließen,
daß die Träume der Burschenzeit ohne Weiteres in Wirklichkeit umgesetzt wurden.
Zwar hatte es den Anschein, als bedeute das Scheitern dieser Bestrebungen
nur den Triumph einer andern Art von Romantik, der mittelalterlich konser¬
vativen und frommen; der Geist der Geschichte liebt die Ironie: in Wahrheit
bedeutete jenes Scheitern den unbedingten Sieg der verständigen Nüchternheit
und illusionsfreien praktischen Erwägung, — für den Idealisten und Roman¬
tiker, der sich nicht bekehren mochte oder konnte, den Sieg der Verzweifelung,
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[0097] nicht geringen Theile an ihrer eigenen Beschaffenheit, an ihrer Verquickung mit den oder jenen unannehmbaren Elementen — so mit Orthodoxie oder Mystik, wie bei dem späteren Schelling selbst, bei Stahl u. A. —, an der Einseitigkeit und Schroffheit, mit der sie, im Kampfe mit der Nothwendigkeitslehre, auch ihrerseits wieder in Extreme und Undenkbarkeiten verfielen. Und in der Zwi¬ schenzeit hatten ganz anderartige Denk- und Lebensrichtungen den „Schatten breitgesessen" unter dem Baume, unter dem jene sich gern gelagert hätten. Die auf praktisches Wirken und Schaffen sich immer entschiedener hinwendende Zeit schien dem Idealismus, der das Leben im Denken und Dichten fand, für immer den Athem zu versetzen. Allein eben dieser letzterwähnte Umstand trug einen bis dahin über Ge¬ bühr vernachlässigten Denker an die Oberfläche des Zeitbewußtseins empor, dessen Lehre gleichfalls zu den Philosophieen der freien That oder des an keine Vernunft gebundenen „Willens" gehörte. Schopenhauer wurde für das Jahrzehnt von 1850—1860 und darüber hinaus zum Messias der verstimmten und zurückgedrängten Idealisten und Romantiker. In ihm verkehrte sich das Wort „Im Anfang war die That" zu dem Sinne des Pessimismus, wonach eine Unthat, eine Missethat es gewesen, welche die Welt in's Dasein rief. In dieser Verkehrung allein sollte die Philosophie der freien That in der Ent¬ wickelung des deutschen Geistes zunächst — und sehr bald noch ein zweites Mal — Epoche machen. Das Auftreten des Schopenhauer-Enthusiasmus, in dem Zeitraume zwi¬ schen den bitteren Enttäuschungen des Jahres 1849 und dem Wiederaufbrechen nationaler Hoffnungen gegen die Mitte der sechziger Jahre, ist eine nach allen Seiten leicht begreifliche Erscheinung. Es war nicht nur der alte philosophische Idealismus, sondern zugleich der poetische und der politische, der jetzt mit Leidwesen einer neuen Zeit sich gegenübergestellt fand, vor der er sich genöthigt sah, grollend zurückzuweichen. Die politischen Erhebungen der letzten vierziger Jahre, selbst noch aus romantischer Jugendpoesie geboren, hatten den verzwei¬ felten Versuch gemacht, den Bund mit den realen Aufgaben der wirklichen Menschengeschichte und mit dem praktischen Drange der Zeit dadurch zu schließen, daß die Träume der Burschenzeit ohne Weiteres in Wirklichkeit umgesetzt wurden. Zwar hatte es den Anschein, als bedeute das Scheitern dieser Bestrebungen nur den Triumph einer andern Art von Romantik, der mittelalterlich konser¬ vativen und frommen; der Geist der Geschichte liebt die Ironie: in Wahrheit bedeutete jenes Scheitern den unbedingten Sieg der verständigen Nüchternheit und illusionsfreien praktischen Erwägung, — für den Idealisten und Roman¬ tiker, der sich nicht bekehren mochte oder konnte, den Sieg der Verzweifelung, des Pessimismus. Gleichen Schritt mit den Niederlagen eines politischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Zweites Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157663/97>, abgerufen am 22.05.2024.