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Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal.

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und der individuellen Glückseligkeit besteht. Das eigentlich Sittliche in einer
Handlung ist wie gesagt ein hochpersönlicher Akt; für das Individuum ist aber
ein großer Theil des äußeren Glücks oder Unglücks zufällig. Wenn es auch
sicher ist, daß das Zusammengehen des sittlichen Jndividualwillens mit dem
großen Gange der göttlichen Vernunft auch in seinen äußern Wirkungen Glück¬
seligkeit bedeuten muß, so ist damit doch nicht gesagt, daß diese Wirkungen dem
betreffenden Individuum zu gute kommen, ebenso wie es ungewiß ist, ob die
äußern Wirkungen einer unsittlichen That gerade dieses unsittliche Individuum
treffen. Der sittliche Wille muß daher von jeder Rücksicht auf Glückseligkeit
absehen, obwohl durchgängig sittliches Handeln und äußere Glückseligkeit sub¬
jektiv zusammenfallen. Die sittliche That ist eben keine Leistung dieser sinn¬
lichen Welt, sondern eine Leistung einer höhern Welt, welche sich nicht an die
Erscheinung der sinnlichen Individuation kehrt.

Daß in dieser Welt, wo Völker und Einzelne umkommen wie ohne Ge¬
setz, und das Gericht über die Ungerechten oft lange aufgeschoben wird, des¬
halb keine Gerechtigkeit walte, dies ist es, was die Thoren aller Zeiten in
ihrem Herzen glauben, dies ist es aber auch, weshalb die Weisen aller Zeiten
weise waren, weil sie es leugneten und wußten, daß es niemals sein könne;
"denn wenn die Gerechtigkeit aufhört, dann hat es auch keinen Werth mehr, daß
Menschen auf Erden leben" (Kant). Carlyle sagt: "Es gibt nichts Anderes als
Gerechtigkeit, und nur eins ist stark hienieden -- das Gerechte, das Wahre.
Und wenn die ganze Artillerie der Welt hinter dir herkäme, um eine unge¬
rechte Sache zu vertheidigen, und unendliche Freudenfeuer sichtbar vor dir
warteten, um Jahrhunderte lang um deines Sieges willen zu lodern, so würde
ich dir doch rathen, Halt zu kommandiren, deinen Feldherrnstab zu Boden zu
werfen und zu sagen: In Gottes Namen Nein! Und das sagt dir nicht die
bekleidete, verkörperte Gerechtigkeit, welche mit Strafen, Pergamenten, Akten¬
stößen und Häschern zu Gericht sitzt, sondern es sagt's jene unverkörperte Ge¬
rechtigkeit, wovon jene andere entweder ein Emblem oder eine furchtbare Unbe¬
schreiblichkeit ist." Diese unverkörperte Gerechtigkeit ist nicht Allen sichtbar,
denn sie ist nicht von dieser Welt; aber soviel Menschen es in einer Nation
gibt, welche diese unsichtbare Gerechtigkeit überhaupt sehen können, und wissen,
daß sie auch auf Erden allmächtig ist, soviel Menschen gibt es auch, welche
zwischen einer Nation und ihrem Untergange stehen. So viele und nicht mehr.
Großes, theures Vaterland, wie viele hast du ihrer in dieser Stunde?




und der individuellen Glückseligkeit besteht. Das eigentlich Sittliche in einer
Handlung ist wie gesagt ein hochpersönlicher Akt; für das Individuum ist aber
ein großer Theil des äußeren Glücks oder Unglücks zufällig. Wenn es auch
sicher ist, daß das Zusammengehen des sittlichen Jndividualwillens mit dem
großen Gange der göttlichen Vernunft auch in seinen äußern Wirkungen Glück¬
seligkeit bedeuten muß, so ist damit doch nicht gesagt, daß diese Wirkungen dem
betreffenden Individuum zu gute kommen, ebenso wie es ungewiß ist, ob die
äußern Wirkungen einer unsittlichen That gerade dieses unsittliche Individuum
treffen. Der sittliche Wille muß daher von jeder Rücksicht auf Glückseligkeit
absehen, obwohl durchgängig sittliches Handeln und äußere Glückseligkeit sub¬
jektiv zusammenfallen. Die sittliche That ist eben keine Leistung dieser sinn¬
lichen Welt, sondern eine Leistung einer höhern Welt, welche sich nicht an die
Erscheinung der sinnlichen Individuation kehrt.

Daß in dieser Welt, wo Völker und Einzelne umkommen wie ohne Ge¬
setz, und das Gericht über die Ungerechten oft lange aufgeschoben wird, des¬
halb keine Gerechtigkeit walte, dies ist es, was die Thoren aller Zeiten in
ihrem Herzen glauben, dies ist es aber auch, weshalb die Weisen aller Zeiten
weise waren, weil sie es leugneten und wußten, daß es niemals sein könne;
„denn wenn die Gerechtigkeit aufhört, dann hat es auch keinen Werth mehr, daß
Menschen auf Erden leben" (Kant). Carlyle sagt: „Es gibt nichts Anderes als
Gerechtigkeit, und nur eins ist stark hienieden — das Gerechte, das Wahre.
Und wenn die ganze Artillerie der Welt hinter dir herkäme, um eine unge¬
rechte Sache zu vertheidigen, und unendliche Freudenfeuer sichtbar vor dir
warteten, um Jahrhunderte lang um deines Sieges willen zu lodern, so würde
ich dir doch rathen, Halt zu kommandiren, deinen Feldherrnstab zu Boden zu
werfen und zu sagen: In Gottes Namen Nein! Und das sagt dir nicht die
bekleidete, verkörperte Gerechtigkeit, welche mit Strafen, Pergamenten, Akten¬
stößen und Häschern zu Gericht sitzt, sondern es sagt's jene unverkörperte Ge¬
rechtigkeit, wovon jene andere entweder ein Emblem oder eine furchtbare Unbe¬
schreiblichkeit ist." Diese unverkörperte Gerechtigkeit ist nicht Allen sichtbar,
denn sie ist nicht von dieser Welt; aber soviel Menschen es in einer Nation
gibt, welche diese unsichtbare Gerechtigkeit überhaupt sehen können, und wissen,
daß sie auch auf Erden allmächtig ist, soviel Menschen gibt es auch, welche
zwischen einer Nation und ihrem Untergange stehen. So viele und nicht mehr.
Großes, theures Vaterland, wie viele hast du ihrer in dieser Stunde?




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 38, 1879, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341829_157675/329>, abgerufen am 18.05.2024.