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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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über den groben Zeno, der den Stoiker Chrysippos nie anders als Chrysippe
und Sokrates einen attischen Possenreißer nannte, über den hochgebildete": und
schriftstellerisch fruchtbaren Philodemos, über den gedankenreichen Lucrez, über
den klugen Atticus u. a. uns zu erlassen.

Unterziehen wir das epikureische System dem Urtheil des kritischen Ver¬
standes, so tritt eine Reihe von Widersprüchen zu Tage; von deu bereits ange¬
deuteten wiederholen wir hier nur die zwei wichtigsten aus der Ethik: 1) die
Verguickung von Legalität und Moralität durch Subsumirung des befehlenden
sittlichen Gefühls unter das Glückseligkeit erstrebende Lustgefühl einerseits und
Ableitung der erhabensten Vorschriften humanitärer Art aus dein Motiv der
Lust andererseits; 2) Die Freilassung des menschlichen Willens neben der Natur¬
notwendigkeit. Dazu fügen wir noch den dritten Widerspruch, welcher darin
liegt, daß Epikur die Ewigkeit seiner aus Atomen zusammengesetzte" Götter an¬
nimmt, während doch nur die einfachen Atome uach seiner Ansicht ewig sind.
Lassen wir aber das epikureische System und die epikureische Lebensanschauung
vor unserer ganzen Seele Revue passiren, dann will es uns fast bedünken, als
sollten wir Epikur zu den Dissonanzen von Herzen gratuliren, mit denen er
seinen vluiwL in'mus von Lust und Atomen eontrapunetirt hat. Denn das
lebensphilosophische Ohr unseres Gemüthes empfindet gerade dort, wo der Despot
Verstand, der große Generalbaßtheoretiker, mit drakonischer Tinte Mißklänge
verzeichnet, nur wohlthuende, innig wohlthuende latente Harmonie. Mag der
modernste Materialismus, der mit seinem Atheismus, Pessimismus, Egoismus
und Nihilismus "die Tugend und Moral nur von den Ueberfallen und Zah¬
lungsfähigen verlangt", sich noch so sehr logischer Consequenz rühmen -- obgleich
es damit nicht so ganz rosig bestellt ist --, Epikur und seinen Schülern muß
das Lob gespendet werden, daß sie es verstanden haben, die Tugend durch das
Lustprincip mit dem Eudämonismus in inneren Zusammenhang zu bringen
und so dem allgemeinen Streben der Menschen nach Glückseligkeit in einer red¬
lichen und zugleich der menschlichen Natur in hohem Grade zusagenden Form
zu Hilfe zu kommen. Sicher thut man Epikur und seinen Schülern das
schreiendste Unrecht, wenn man um einer blendenden Antithese willen, wie es
in neuerer Zeit geschehen ist*), die Gartenphilosophen als Weltversunkene den
Halleuphilvsophen als Welterhabenen gegenüberstellt; ja nicht einmal der Gegen¬
satz "Weltaufgeschlossene -- Weltabgeschlossene" ist zutreffend. Denn das


Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,

d. i. jener individualistische Zug der nacharistotelischen Zeit, welche das Be-



*) Zimmermann, Das Räthsel des Lebens. Leipzig, Hasset, 1377, S. 27.

über den groben Zeno, der den Stoiker Chrysippos nie anders als Chrysippe
und Sokrates einen attischen Possenreißer nannte, über den hochgebildete»: und
schriftstellerisch fruchtbaren Philodemos, über den gedankenreichen Lucrez, über
den klugen Atticus u. a. uns zu erlassen.

Unterziehen wir das epikureische System dem Urtheil des kritischen Ver¬
standes, so tritt eine Reihe von Widersprüchen zu Tage; von deu bereits ange¬
deuteten wiederholen wir hier nur die zwei wichtigsten aus der Ethik: 1) die
Verguickung von Legalität und Moralität durch Subsumirung des befehlenden
sittlichen Gefühls unter das Glückseligkeit erstrebende Lustgefühl einerseits und
Ableitung der erhabensten Vorschriften humanitärer Art aus dein Motiv der
Lust andererseits; 2) Die Freilassung des menschlichen Willens neben der Natur¬
notwendigkeit. Dazu fügen wir noch den dritten Widerspruch, welcher darin
liegt, daß Epikur die Ewigkeit seiner aus Atomen zusammengesetzte» Götter an¬
nimmt, während doch nur die einfachen Atome uach seiner Ansicht ewig sind.
Lassen wir aber das epikureische System und die epikureische Lebensanschauung
vor unserer ganzen Seele Revue passiren, dann will es uns fast bedünken, als
sollten wir Epikur zu den Dissonanzen von Herzen gratuliren, mit denen er
seinen vluiwL in'mus von Lust und Atomen eontrapunetirt hat. Denn das
lebensphilosophische Ohr unseres Gemüthes empfindet gerade dort, wo der Despot
Verstand, der große Generalbaßtheoretiker, mit drakonischer Tinte Mißklänge
verzeichnet, nur wohlthuende, innig wohlthuende latente Harmonie. Mag der
modernste Materialismus, der mit seinem Atheismus, Pessimismus, Egoismus
und Nihilismus „die Tugend und Moral nur von den Ueberfallen und Zah¬
lungsfähigen verlangt", sich noch so sehr logischer Consequenz rühmen — obgleich
es damit nicht so ganz rosig bestellt ist —, Epikur und seinen Schülern muß
das Lob gespendet werden, daß sie es verstanden haben, die Tugend durch das
Lustprincip mit dem Eudämonismus in inneren Zusammenhang zu bringen
und so dem allgemeinen Streben der Menschen nach Glückseligkeit in einer red¬
lichen und zugleich der menschlichen Natur in hohem Grade zusagenden Form
zu Hilfe zu kommen. Sicher thut man Epikur und seinen Schülern das
schreiendste Unrecht, wenn man um einer blendenden Antithese willen, wie es
in neuerer Zeit geschehen ist*), die Gartenphilosophen als Weltversunkene den
Halleuphilvsophen als Welterhabenen gegenüberstellt; ja nicht einmal der Gegen¬
satz „Weltaufgeschlossene — Weltabgeschlossene" ist zutreffend. Denn das


Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,

d. i. jener individualistische Zug der nacharistotelischen Zeit, welche das Be-



*) Zimmermann, Das Räthsel des Lebens. Leipzig, Hasset, 1377, S. 27.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/117>, abgerufen am 21.05.2024.