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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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aus dem Leben sich in der Weise bereichert, daß man von den Dingen dort den
Begriff abzieht und sie in dieser vom rohen Stoffe gereinigten Form im Kopfe
niederlegt, schön in Fächer geordnet -- daher auch die Erscheinung, daß die Schüler,
die am meisten im alten Sinne gute Schüler heißen, gewöhnlich zugleich altkluge
Jungen sind, ohne Jugendfrische, später eine leichte Beute verkehrter Theorien, die
ja im Grunde immer eine falsche Abstraction sind, eine Leugnung gesunden Em¬
pfindens, und von denen in unserer Zeit die Luft wimmelt wie im Sommer
von Mücken. Nein, nur aus des Schülers Erfahrung heraus wird ihm klar,
was mild ist, wie alles andere, was wirklich sein inneres Eigenthum werden
soll. Der Lehrer erinnere z. B. an eine Nacht, wo einer bös an Zahnschmerzen
litt, und die Mutter ihn endlich auf den Schooß nahm und ihn schaukelnd und
streichelnd begütigte: "Na, laß gut sein sein! morgen früh is alles vorbei!" oder
wie die Mundart eben lautet, denn in der Mundart oder doch mit hinreichen¬
dem Anklang daran muß das der Lehrer sagen, auch mitten im Unterrichte
(die Schüler werden nicht lachen), und er braucht es gar nicht dramatisch zu
sagen (um Himmels willen nicht theatralisch!), nur andeutend, im Gesprächstone,
wie er's zu Hause selbst macht, doch mit dem Klänge wohlwollend umfassender
Liebe darin, den er ja im Hause auch sicher zur Verfügung hat -- das ist so
ein Augenblick, wo der Schüler die Schule vergißt und den er nie wieder ver¬
gißt. Und da quillt auch die rechte Bildung, die nach oben führt, ohne die
Wurzel abzuschneiden, durch die der Saft nachquillt, da tritt ihm seine Wirk¬
lichkeit, die einzige Nahrungsquelle des wirklichen Seelenlebens, in ein höheres
Licht, daß er froher und zuversichtlicher aus der Schule in sie zurückkehrt, ganz
wie einst als Elementarschüler. Denn sicher, wenn er nach dieser Stunde heim¬
kommt, da wird er nicht nur für den Tag seltener unartig sein gegen seine
Mutter, als er ohne das gewesen sein würde, er sieht sie auch innerlich mit
anderen Augen an: trotz des gar nicht festlichen Kleides, das sie etwa Sonn¬
abends an hat, erscheint sie ihm wie mit einem Lichte um sich herum, hat
sie doch wie sie da ist, in der Schule, das heißt auf der Höhe seines geistigen
Daseins als Beispiel für etwas so Schönes dienen können und als Mittelpunkt
einer innern Erfahrung, in der er einmal sein Alltagsleben plötzlich in die
höhere Welt übergehen fühlte, als gehörte es doch eigentlich mit zu dieser, wäre
nur der Anfang dazu -- und das ist es ja auch wirklich, soll es sein und kann
es sein jeden Augenblick. Und aus jeder Stunde könnte der Schüler, auch das
Dvrfkind, eine solche innere Erfahrung mit sich nach Hause nehmen -- man
denke sich das ein Jahr lang fortgesetzt, wie würde es dann wohl in den
Kinderseelen aussehen? Man denke sich Vater und Mutter schon so in der
Schule herangezogen, wie würde es dann im Hause aussehen? Der Riß, der
zwischen der höheren Welt und dem Alltagsleben jetzt noch klafft, ist der Haupt-


Grcnzboten III. 1830. 24

aus dem Leben sich in der Weise bereichert, daß man von den Dingen dort den
Begriff abzieht und sie in dieser vom rohen Stoffe gereinigten Form im Kopfe
niederlegt, schön in Fächer geordnet — daher auch die Erscheinung, daß die Schüler,
die am meisten im alten Sinne gute Schüler heißen, gewöhnlich zugleich altkluge
Jungen sind, ohne Jugendfrische, später eine leichte Beute verkehrter Theorien, die
ja im Grunde immer eine falsche Abstraction sind, eine Leugnung gesunden Em¬
pfindens, und von denen in unserer Zeit die Luft wimmelt wie im Sommer
von Mücken. Nein, nur aus des Schülers Erfahrung heraus wird ihm klar,
was mild ist, wie alles andere, was wirklich sein inneres Eigenthum werden
soll. Der Lehrer erinnere z. B. an eine Nacht, wo einer bös an Zahnschmerzen
litt, und die Mutter ihn endlich auf den Schooß nahm und ihn schaukelnd und
streichelnd begütigte: „Na, laß gut sein sein! morgen früh is alles vorbei!" oder
wie die Mundart eben lautet, denn in der Mundart oder doch mit hinreichen¬
dem Anklang daran muß das der Lehrer sagen, auch mitten im Unterrichte
(die Schüler werden nicht lachen), und er braucht es gar nicht dramatisch zu
sagen (um Himmels willen nicht theatralisch!), nur andeutend, im Gesprächstone,
wie er's zu Hause selbst macht, doch mit dem Klänge wohlwollend umfassender
Liebe darin, den er ja im Hause auch sicher zur Verfügung hat — das ist so
ein Augenblick, wo der Schüler die Schule vergißt und den er nie wieder ver¬
gißt. Und da quillt auch die rechte Bildung, die nach oben führt, ohne die
Wurzel abzuschneiden, durch die der Saft nachquillt, da tritt ihm seine Wirk¬
lichkeit, die einzige Nahrungsquelle des wirklichen Seelenlebens, in ein höheres
Licht, daß er froher und zuversichtlicher aus der Schule in sie zurückkehrt, ganz
wie einst als Elementarschüler. Denn sicher, wenn er nach dieser Stunde heim¬
kommt, da wird er nicht nur für den Tag seltener unartig sein gegen seine
Mutter, als er ohne das gewesen sein würde, er sieht sie auch innerlich mit
anderen Augen an: trotz des gar nicht festlichen Kleides, das sie etwa Sonn¬
abends an hat, erscheint sie ihm wie mit einem Lichte um sich herum, hat
sie doch wie sie da ist, in der Schule, das heißt auf der Höhe seines geistigen
Daseins als Beispiel für etwas so Schönes dienen können und als Mittelpunkt
einer innern Erfahrung, in der er einmal sein Alltagsleben plötzlich in die
höhere Welt übergehen fühlte, als gehörte es doch eigentlich mit zu dieser, wäre
nur der Anfang dazu — und das ist es ja auch wirklich, soll es sein und kann
es sein jeden Augenblick. Und aus jeder Stunde könnte der Schüler, auch das
Dvrfkind, eine solche innere Erfahrung mit sich nach Hause nehmen — man
denke sich das ein Jahr lang fortgesetzt, wie würde es dann wohl in den
Kinderseelen aussehen? Man denke sich Vater und Mutter schon so in der
Schule herangezogen, wie würde es dann im Hause aussehen? Der Riß, der
zwischen der höheren Welt und dem Alltagsleben jetzt noch klafft, ist der Haupt-


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[0186] aus dem Leben sich in der Weise bereichert, daß man von den Dingen dort den Begriff abzieht und sie in dieser vom rohen Stoffe gereinigten Form im Kopfe niederlegt, schön in Fächer geordnet — daher auch die Erscheinung, daß die Schüler, die am meisten im alten Sinne gute Schüler heißen, gewöhnlich zugleich altkluge Jungen sind, ohne Jugendfrische, später eine leichte Beute verkehrter Theorien, die ja im Grunde immer eine falsche Abstraction sind, eine Leugnung gesunden Em¬ pfindens, und von denen in unserer Zeit die Luft wimmelt wie im Sommer von Mücken. Nein, nur aus des Schülers Erfahrung heraus wird ihm klar, was mild ist, wie alles andere, was wirklich sein inneres Eigenthum werden soll. Der Lehrer erinnere z. B. an eine Nacht, wo einer bös an Zahnschmerzen litt, und die Mutter ihn endlich auf den Schooß nahm und ihn schaukelnd und streichelnd begütigte: „Na, laß gut sein sein! morgen früh is alles vorbei!" oder wie die Mundart eben lautet, denn in der Mundart oder doch mit hinreichen¬ dem Anklang daran muß das der Lehrer sagen, auch mitten im Unterrichte (die Schüler werden nicht lachen), und er braucht es gar nicht dramatisch zu sagen (um Himmels willen nicht theatralisch!), nur andeutend, im Gesprächstone, wie er's zu Hause selbst macht, doch mit dem Klänge wohlwollend umfassender Liebe darin, den er ja im Hause auch sicher zur Verfügung hat — das ist so ein Augenblick, wo der Schüler die Schule vergißt und den er nie wieder ver¬ gißt. Und da quillt auch die rechte Bildung, die nach oben führt, ohne die Wurzel abzuschneiden, durch die der Saft nachquillt, da tritt ihm seine Wirk¬ lichkeit, die einzige Nahrungsquelle des wirklichen Seelenlebens, in ein höheres Licht, daß er froher und zuversichtlicher aus der Schule in sie zurückkehrt, ganz wie einst als Elementarschüler. Denn sicher, wenn er nach dieser Stunde heim¬ kommt, da wird er nicht nur für den Tag seltener unartig sein gegen seine Mutter, als er ohne das gewesen sein würde, er sieht sie auch innerlich mit anderen Augen an: trotz des gar nicht festlichen Kleides, das sie etwa Sonn¬ abends an hat, erscheint sie ihm wie mit einem Lichte um sich herum, hat sie doch wie sie da ist, in der Schule, das heißt auf der Höhe seines geistigen Daseins als Beispiel für etwas so Schönes dienen können und als Mittelpunkt einer innern Erfahrung, in der er einmal sein Alltagsleben plötzlich in die höhere Welt übergehen fühlte, als gehörte es doch eigentlich mit zu dieser, wäre nur der Anfang dazu — und das ist es ja auch wirklich, soll es sein und kann es sein jeden Augenblick. Und aus jeder Stunde könnte der Schüler, auch das Dvrfkind, eine solche innere Erfahrung mit sich nach Hause nehmen — man denke sich das ein Jahr lang fortgesetzt, wie würde es dann wohl in den Kinderseelen aussehen? Man denke sich Vater und Mutter schon so in der Schule herangezogen, wie würde es dann im Hause aussehen? Der Riß, der zwischen der höheren Welt und dem Alltagsleben jetzt noch klafft, ist der Haupt- Grcnzboten III. 1830. 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/186>, abgerufen am 14.06.2024.