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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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über Wien nach Venedig gehen, um dort, wo er eigentlich hatte anfangen wollen
seine Studien zu vollenden, doch zwang ihn der Strelitzenaufstand von Wien
aus zur Rückkehr in die Heimat.

Die Wirkung dieser merkwürdigen Reise aus den Zaren war aber viel
allgemeiner als ihr ursprünglicher Zweck. Er hatte eine neue Welt kennen ge¬
lernt; der Vergleich zwischen der Heimat und der so unendlich höheren Kultur¬
stufe des Westens war entscheidend für ihn. Was er selbst in rastlosem Stre¬
ben sich angeeignet hatte, das sollte ihm jetzt sein ganzes Volk nachmachen; wie
er ein Europäer geworden war, sollte auch sein Volk das halbasiatische Wesen
mit der westeuropäische" Cultur vertauschen. Und daß er die Metamorphose
die er seinem Volke zumuthete, ohne eigene Schonung in aller Strenge selbst
durchgemacht hatte, versöhnt mit der despotischen Gewaltsamkeit, mit der er
nachher die Europäisiruug Rußlands eingeleitet hat, und verleiht seinem Han¬
deln die sittliche Berechtigung.

Der Verfasser steht uicht an, die oft wiederholte Klage, Peter habe sein
Volk aus der natürlichen Bahn gerissen und es in eine unwahre, ihm nuper-,
ständliche Cultur hineingezwängt, bestimmt zurückzuweisen. Seine Reformen
versuchten doch nicht den Nationalcharakter, die innerste Denkweise, die Religion
der Russen zu ändern; sie sollten sich zunächst nur die Fertigkeiten aneignen,
die in der That zu erlernen sind, und die sich nicht jedes Volk national selb¬
ständig gestalten kann. Von der höheren Geistesbildung blieb der Zar selbst
unberührt, für die philosophisch-historischen Wissenschaften hatte er kein Ver¬
ständniß. Die Aenderungen in Kleidung und Lebeusweise, zu denen er sein
Volk zwang, sollten nur das beseitigen, was der Gewöhnung an europäische
Thätigkeit hinderlich war. Die Einführung von Behörden mit festbegrenzten
Competenzen war eine unerläßliche Vorbedingung zu jedem Fortschritt im Staats¬
wesen; daß es nur unvollkommen gelang, den russischen Beamten diejenigen
sittlichen Eigenschaften anzuerziehen, anf denen die Zuverlässigkeit des Staats¬
wesens im Westen beruht, gesteht der Verfasser offen zu.

Sehr ausführlich schildert Bruckner die Opposition, auf die Peters Reformen
stießen. So allgemein dieselbe war, so blieb sie doch gegen seinen festen Willen,
sein unermüdliches Vorgehen ohnmächtig. Ihre Schwäche lag in dem gänzlichen
Mangel an organisirten socialen Gruppen, die ihre Rechte und Interessen zu
vertreten verstanden hätten, die sich zu Parteien umbilden und dein Programm
des Zaren andere Programme hätten entgegensetzen können. So standen dem
Zaren immer nur die wirre Masse in ihrer allgemeinen Unzufriedenheit oder
einzelne Mißvergnügte gegenüber, und unter den letzteren fehlte es gänzlich an
Männern von wirklich hervorragender Bedeutung. Es galt uicht, eine alther¬
gebrachte Staatsverfassung umzustürzen um eine andere einzuführen, alte Rechte


über Wien nach Venedig gehen, um dort, wo er eigentlich hatte anfangen wollen
seine Studien zu vollenden, doch zwang ihn der Strelitzenaufstand von Wien
aus zur Rückkehr in die Heimat.

Die Wirkung dieser merkwürdigen Reise aus den Zaren war aber viel
allgemeiner als ihr ursprünglicher Zweck. Er hatte eine neue Welt kennen ge¬
lernt; der Vergleich zwischen der Heimat und der so unendlich höheren Kultur¬
stufe des Westens war entscheidend für ihn. Was er selbst in rastlosem Stre¬
ben sich angeeignet hatte, das sollte ihm jetzt sein ganzes Volk nachmachen; wie
er ein Europäer geworden war, sollte auch sein Volk das halbasiatische Wesen
mit der westeuropäische« Cultur vertauschen. Und daß er die Metamorphose
die er seinem Volke zumuthete, ohne eigene Schonung in aller Strenge selbst
durchgemacht hatte, versöhnt mit der despotischen Gewaltsamkeit, mit der er
nachher die Europäisiruug Rußlands eingeleitet hat, und verleiht seinem Han¬
deln die sittliche Berechtigung.

Der Verfasser steht uicht an, die oft wiederholte Klage, Peter habe sein
Volk aus der natürlichen Bahn gerissen und es in eine unwahre, ihm nuper-,
ständliche Cultur hineingezwängt, bestimmt zurückzuweisen. Seine Reformen
versuchten doch nicht den Nationalcharakter, die innerste Denkweise, die Religion
der Russen zu ändern; sie sollten sich zunächst nur die Fertigkeiten aneignen,
die in der That zu erlernen sind, und die sich nicht jedes Volk national selb¬
ständig gestalten kann. Von der höheren Geistesbildung blieb der Zar selbst
unberührt, für die philosophisch-historischen Wissenschaften hatte er kein Ver¬
ständniß. Die Aenderungen in Kleidung und Lebeusweise, zu denen er sein
Volk zwang, sollten nur das beseitigen, was der Gewöhnung an europäische
Thätigkeit hinderlich war. Die Einführung von Behörden mit festbegrenzten
Competenzen war eine unerläßliche Vorbedingung zu jedem Fortschritt im Staats¬
wesen; daß es nur unvollkommen gelang, den russischen Beamten diejenigen
sittlichen Eigenschaften anzuerziehen, anf denen die Zuverlässigkeit des Staats¬
wesens im Westen beruht, gesteht der Verfasser offen zu.

Sehr ausführlich schildert Bruckner die Opposition, auf die Peters Reformen
stießen. So allgemein dieselbe war, so blieb sie doch gegen seinen festen Willen,
sein unermüdliches Vorgehen ohnmächtig. Ihre Schwäche lag in dem gänzlichen
Mangel an organisirten socialen Gruppen, die ihre Rechte und Interessen zu
vertreten verstanden hätten, die sich zu Parteien umbilden und dein Programm
des Zaren andere Programme hätten entgegensetzen können. So standen dem
Zaren immer nur die wirre Masse in ihrer allgemeinen Unzufriedenheit oder
einzelne Mißvergnügte gegenüber, und unter den letzteren fehlte es gänzlich an
Männern von wirklich hervorragender Bedeutung. Es galt uicht, eine alther¬
gebrachte Staatsverfassung umzustürzen um eine andere einzuführen, alte Rechte


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[0203] über Wien nach Venedig gehen, um dort, wo er eigentlich hatte anfangen wollen seine Studien zu vollenden, doch zwang ihn der Strelitzenaufstand von Wien aus zur Rückkehr in die Heimat. Die Wirkung dieser merkwürdigen Reise aus den Zaren war aber viel allgemeiner als ihr ursprünglicher Zweck. Er hatte eine neue Welt kennen ge¬ lernt; der Vergleich zwischen der Heimat und der so unendlich höheren Kultur¬ stufe des Westens war entscheidend für ihn. Was er selbst in rastlosem Stre¬ ben sich angeeignet hatte, das sollte ihm jetzt sein ganzes Volk nachmachen; wie er ein Europäer geworden war, sollte auch sein Volk das halbasiatische Wesen mit der westeuropäische« Cultur vertauschen. Und daß er die Metamorphose die er seinem Volke zumuthete, ohne eigene Schonung in aller Strenge selbst durchgemacht hatte, versöhnt mit der despotischen Gewaltsamkeit, mit der er nachher die Europäisiruug Rußlands eingeleitet hat, und verleiht seinem Han¬ deln die sittliche Berechtigung. Der Verfasser steht uicht an, die oft wiederholte Klage, Peter habe sein Volk aus der natürlichen Bahn gerissen und es in eine unwahre, ihm nuper-, ständliche Cultur hineingezwängt, bestimmt zurückzuweisen. Seine Reformen versuchten doch nicht den Nationalcharakter, die innerste Denkweise, die Religion der Russen zu ändern; sie sollten sich zunächst nur die Fertigkeiten aneignen, die in der That zu erlernen sind, und die sich nicht jedes Volk national selb¬ ständig gestalten kann. Von der höheren Geistesbildung blieb der Zar selbst unberührt, für die philosophisch-historischen Wissenschaften hatte er kein Ver¬ ständniß. Die Aenderungen in Kleidung und Lebeusweise, zu denen er sein Volk zwang, sollten nur das beseitigen, was der Gewöhnung an europäische Thätigkeit hinderlich war. Die Einführung von Behörden mit festbegrenzten Competenzen war eine unerläßliche Vorbedingung zu jedem Fortschritt im Staats¬ wesen; daß es nur unvollkommen gelang, den russischen Beamten diejenigen sittlichen Eigenschaften anzuerziehen, anf denen die Zuverlässigkeit des Staats¬ wesens im Westen beruht, gesteht der Verfasser offen zu. Sehr ausführlich schildert Bruckner die Opposition, auf die Peters Reformen stießen. So allgemein dieselbe war, so blieb sie doch gegen seinen festen Willen, sein unermüdliches Vorgehen ohnmächtig. Ihre Schwäche lag in dem gänzlichen Mangel an organisirten socialen Gruppen, die ihre Rechte und Interessen zu vertreten verstanden hätten, die sich zu Parteien umbilden und dein Programm des Zaren andere Programme hätten entgegensetzen können. So standen dem Zaren immer nur die wirre Masse in ihrer allgemeinen Unzufriedenheit oder einzelne Mißvergnügte gegenüber, und unter den letzteren fehlte es gänzlich an Männern von wirklich hervorragender Bedeutung. Es galt uicht, eine alther¬ gebrachte Staatsverfassung umzustürzen um eine andere einzuführen, alte Rechte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/203>, abgerufen am 14.06.2024.