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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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auch den Leitmotiven nur eine nebensächliche Bedeutung zuzugestehen, und bei
näherer Betrachtung erscheinen sie auch bei Wagner durchaus nicht 'als der Kern
seiner neueren Schöpfungen, wenngleich sein Nachbeter und Anbeter sie dafür
ansehen, wie zur Genüge die "Führer" durch die Musik der Nibelungen, die
Analysen Wagnerscher "Tondramen" in verschiedenen Musikzeitungen und ein
Heer von Broschüren bewiesen.

In inniger Beziehung zu jener principiellen Scheidung der Ansichten über
das Musikalisch-Schöne steht eine verschiedenartige Behandlung der musikalischen
Darstellungsmittel. Die Vorkämpfer für die obligatorische Bedeutsamkeit der
Musik erscheinen als Gegner der historisch gewordenen musikalischen Formen
nicht nur, sondern auch der Gestaltuugsweise innerhalb dieser Formen. Welche
Principien diese Formgebung beherrschen, werden wir sogleich untersuchen; hier
sei nur bemerkt, daß z. B. die Einheit der Tonart von den Gegnern der for¬
malistischen Richtung als ein ganz unnöthiger Zwang angesehen wird, daß sie
ferner eine Wiederkehr entwickelter Themen durch die Verarbeitung der Motive
überboten zu haben glauben, daß sie überhaupt eine übersichtliche Gliederung
des Tonmaterials als Schematismus verwerfen, die naturgemäße gemeingefällige
Entwicklung einer Melodie in der Oper für eine unberechtigte Hemmung der
Handlung halten, mit einem Worte, der Musik nur schmale Rechte gegenüber
der Poesie einräumen und ihre eigenen Bildungsgesetze nur in sehr beschränktem
Maße zur Geltung kommen lassen. Wenn diese Beschränkungen in der Oper
in gewissem Grade berechtigt sind, so muß es doch als eine starke Verirrung
bezeichnet werden, wenn auch Jnstrumentalwerke mit Programm in derselben
Weise die eigentliche musikalische Gestaltung vermeiden und lebensunfähige Zwitter¬
gebilde schaffen, welche als Opernmusik ohne Text und Scene bezeichnet werden
müssen.

Im allgemeinen kann man behaupten, daß eine charakteristische Verschieden¬
heit in der Behandlung der musikalischen Mittel besteht zwischen denen, welche
der Musik eine anderweite Bedeutung octroyiren, und denen, welche in ihr
nichts anderes sehen und suchen als eben Musik; die Verschiedenheit erstreckt
sich selbst bis auf das harmonische Material, und die extremsten Zunkunfts-
musiker scheuen sich nicht, das Wort auszusprechen, daß das Wesen der Musik
nicht die Consonanz, sondern die Dissonanz sei, die Consonanz aber nur etwa
in ähnlicher Weise die naturgemäße Folge bilden müsse, wie sich die Wieder¬
sprüche des Lebens in des Todes allgleiches Eins endlich auflösen. Der Classi-
cist sucht statt der schwarzen Fittiche des Todesengels vielmehr die rosenfarbene"
Schwingen freundlicher Genien für den Flug seiner Phantasie zu gewinnen;
nicht in finstere Abgründe, nicht in das Grauen des von Gewitterstürmen auf¬
gewühlten Oceans führt er uns, sondern zu sonnigen Höhen und lachenden


auch den Leitmotiven nur eine nebensächliche Bedeutung zuzugestehen, und bei
näherer Betrachtung erscheinen sie auch bei Wagner durchaus nicht 'als der Kern
seiner neueren Schöpfungen, wenngleich sein Nachbeter und Anbeter sie dafür
ansehen, wie zur Genüge die „Führer" durch die Musik der Nibelungen, die
Analysen Wagnerscher „Tondramen" in verschiedenen Musikzeitungen und ein
Heer von Broschüren bewiesen.

In inniger Beziehung zu jener principiellen Scheidung der Ansichten über
das Musikalisch-Schöne steht eine verschiedenartige Behandlung der musikalischen
Darstellungsmittel. Die Vorkämpfer für die obligatorische Bedeutsamkeit der
Musik erscheinen als Gegner der historisch gewordenen musikalischen Formen
nicht nur, sondern auch der Gestaltuugsweise innerhalb dieser Formen. Welche
Principien diese Formgebung beherrschen, werden wir sogleich untersuchen; hier
sei nur bemerkt, daß z. B. die Einheit der Tonart von den Gegnern der for¬
malistischen Richtung als ein ganz unnöthiger Zwang angesehen wird, daß sie
ferner eine Wiederkehr entwickelter Themen durch die Verarbeitung der Motive
überboten zu haben glauben, daß sie überhaupt eine übersichtliche Gliederung
des Tonmaterials als Schematismus verwerfen, die naturgemäße gemeingefällige
Entwicklung einer Melodie in der Oper für eine unberechtigte Hemmung der
Handlung halten, mit einem Worte, der Musik nur schmale Rechte gegenüber
der Poesie einräumen und ihre eigenen Bildungsgesetze nur in sehr beschränktem
Maße zur Geltung kommen lassen. Wenn diese Beschränkungen in der Oper
in gewissem Grade berechtigt sind, so muß es doch als eine starke Verirrung
bezeichnet werden, wenn auch Jnstrumentalwerke mit Programm in derselben
Weise die eigentliche musikalische Gestaltung vermeiden und lebensunfähige Zwitter¬
gebilde schaffen, welche als Opernmusik ohne Text und Scene bezeichnet werden
müssen.

Im allgemeinen kann man behaupten, daß eine charakteristische Verschieden¬
heit in der Behandlung der musikalischen Mittel besteht zwischen denen, welche
der Musik eine anderweite Bedeutung octroyiren, und denen, welche in ihr
nichts anderes sehen und suchen als eben Musik; die Verschiedenheit erstreckt
sich selbst bis auf das harmonische Material, und die extremsten Zunkunfts-
musiker scheuen sich nicht, das Wort auszusprechen, daß das Wesen der Musik
nicht die Consonanz, sondern die Dissonanz sei, die Consonanz aber nur etwa
in ähnlicher Weise die naturgemäße Folge bilden müsse, wie sich die Wieder¬
sprüche des Lebens in des Todes allgleiches Eins endlich auflösen. Der Classi-
cist sucht statt der schwarzen Fittiche des Todesengels vielmehr die rosenfarbene»
Schwingen freundlicher Genien für den Flug seiner Phantasie zu gewinnen;
nicht in finstere Abgründe, nicht in das Grauen des von Gewitterstürmen auf¬
gewühlten Oceans führt er uns, sondern zu sonnigen Höhen und lachenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/231>, abgerufen am 14.06.2024.