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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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Gesträuch mich den Augen der Kosaken entzog. Um in einem Gehölze Sicher¬
heit zu suchen, mußte ich jedoch über ein freies Stück Feld eilen. Gleich einem
Hasen wurde ich von den in Schußweite hinten und neben mir befindlichen
Kosaken durch Gräben und über Hügel gejagt; und als ich kurz vor dem Ge¬
hölz in einen Graben gestürzt war, wurde ich von einer feindlichen Pike von
hinten niedergestoßen. Ich sank in eine Ohnmacht, die einige Minuten dauerte-
Als meine Besinnung zurückgekehrt war, fühlte ich, daß ich eine Wunde erhalten
hatte, daß mir das Blut in den Schuhen stand und daß die Kosaken damit
beschäftigt waren, mir Mantel und Montur auszuziehen. In dem Holze, wohin
ich unter fortwährenden Schlägen gestoßen wurde, traf ich unter mehreren Lei¬
densgefährten einen gothaischen Feldwebel an, einen kleinen Mann mit blonden
Haaren, dessen Name mir entfallen ist. Er fand bei der Untersuchung meiner
Wunde, daß die Pike -- durch den Mantel, in den ich mich gehüllt hatte, und
durch den darunter befindlichen Pelz weniger schädlich gemacht -- nur Zoll
ins Fleisch, doch bis auf den Knochen gegangen war. Einige Tage lang drehte
ich sogenannte Wiken in die Wunde, und sie verharschte und heilte trotz der
großen Kälte. An diesen Unfall knüpfte sich aber eine lange Kette unaussprech¬
licher Leiden.

Bei einem nahgelegenen Dorfe, wohin ich mit ungefähr 200 bis zum
Abend in einem Holzwege zusammengetriebenen Gefangenen gebracht wurde,
und wo ein russischer Offizier mit etwa 50 Mann Militär sich befand, mußten
wir in der strengsten Kälte und vom fürchterlichstein Hunger gequält, unter
freiem Himmel, bis zum anderen Tage zubringen. Dann wurden wir mit un¬
gefähr 800 Maun, die in der Nacht hierher gebracht worden waren, weiter
transportirt -- nicht einem erträglicheren Schicksale, sonder größerem Elende
entgegen. Bei einer Meierei, wo schon etwa ebensoviel Gefangene hielten, und
>vo uns ein höherer Offizier übernahm, wurde uns abermals das unter diesen
Umständen schreckliche Loos, uns ohne eine erwärmende Flamme und ohne die
geringste Nahrung im Freien aufhalten zu müssen. Dieses furchtbare Schicksal
wurde aber dadurch noch gesteigert, daß wir des Nachts von Soldaten, ja selbst
von Bauern durchsucht und geplündert wurden. Noch war mir zu meinem
großen Troste meine Baarschaft geblieben, denn man ließ mir die Schuhe, welche
sie bargen. Aus Furcht, daß auch meine Fußbekleidung Liebhaber finden und
mir mit ihr auch meine Baarschaft -- in so jammervoller Lage noch meine
letzte Hilfe -- entrissen werden dürfte, durchschnitt ich meine Schuhe auf allen
Seiten, band sie sodann mit Lumpen und Stricken zusammen und gab vor, ich
hätte sie der erfrorenen Füße wegen aufschneiden müssen. Daß ich am folgenden
Morgen, als die Hälfte meiner Leidensgenossen theils durch Frost getödtet,
theils verhungert war, mich noch unter den Lebenden befand, hatte ich einem


Gesträuch mich den Augen der Kosaken entzog. Um in einem Gehölze Sicher¬
heit zu suchen, mußte ich jedoch über ein freies Stück Feld eilen. Gleich einem
Hasen wurde ich von den in Schußweite hinten und neben mir befindlichen
Kosaken durch Gräben und über Hügel gejagt; und als ich kurz vor dem Ge¬
hölz in einen Graben gestürzt war, wurde ich von einer feindlichen Pike von
hinten niedergestoßen. Ich sank in eine Ohnmacht, die einige Minuten dauerte-
Als meine Besinnung zurückgekehrt war, fühlte ich, daß ich eine Wunde erhalten
hatte, daß mir das Blut in den Schuhen stand und daß die Kosaken damit
beschäftigt waren, mir Mantel und Montur auszuziehen. In dem Holze, wohin
ich unter fortwährenden Schlägen gestoßen wurde, traf ich unter mehreren Lei¬
densgefährten einen gothaischen Feldwebel an, einen kleinen Mann mit blonden
Haaren, dessen Name mir entfallen ist. Er fand bei der Untersuchung meiner
Wunde, daß die Pike — durch den Mantel, in den ich mich gehüllt hatte, und
durch den darunter befindlichen Pelz weniger schädlich gemacht — nur Zoll
ins Fleisch, doch bis auf den Knochen gegangen war. Einige Tage lang drehte
ich sogenannte Wiken in die Wunde, und sie verharschte und heilte trotz der
großen Kälte. An diesen Unfall knüpfte sich aber eine lange Kette unaussprech¬
licher Leiden.

Bei einem nahgelegenen Dorfe, wohin ich mit ungefähr 200 bis zum
Abend in einem Holzwege zusammengetriebenen Gefangenen gebracht wurde,
und wo ein russischer Offizier mit etwa 50 Mann Militär sich befand, mußten
wir in der strengsten Kälte und vom fürchterlichstein Hunger gequält, unter
freiem Himmel, bis zum anderen Tage zubringen. Dann wurden wir mit un¬
gefähr 800 Maun, die in der Nacht hierher gebracht worden waren, weiter
transportirt — nicht einem erträglicheren Schicksale, sonder größerem Elende
entgegen. Bei einer Meierei, wo schon etwa ebensoviel Gefangene hielten, und
>vo uns ein höherer Offizier übernahm, wurde uns abermals das unter diesen
Umständen schreckliche Loos, uns ohne eine erwärmende Flamme und ohne die
geringste Nahrung im Freien aufhalten zu müssen. Dieses furchtbare Schicksal
wurde aber dadurch noch gesteigert, daß wir des Nachts von Soldaten, ja selbst
von Bauern durchsucht und geplündert wurden. Noch war mir zu meinem
großen Troste meine Baarschaft geblieben, denn man ließ mir die Schuhe, welche
sie bargen. Aus Furcht, daß auch meine Fußbekleidung Liebhaber finden und
mir mit ihr auch meine Baarschaft — in so jammervoller Lage noch meine
letzte Hilfe — entrissen werden dürfte, durchschnitt ich meine Schuhe auf allen
Seiten, band sie sodann mit Lumpen und Stricken zusammen und gab vor, ich
hätte sie der erfrorenen Füße wegen aufschneiden müssen. Daß ich am folgenden
Morgen, als die Hälfte meiner Leidensgenossen theils durch Frost getödtet,
theils verhungert war, mich noch unter den Lebenden befand, hatte ich einem


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[0327] Gesträuch mich den Augen der Kosaken entzog. Um in einem Gehölze Sicher¬ heit zu suchen, mußte ich jedoch über ein freies Stück Feld eilen. Gleich einem Hasen wurde ich von den in Schußweite hinten und neben mir befindlichen Kosaken durch Gräben und über Hügel gejagt; und als ich kurz vor dem Ge¬ hölz in einen Graben gestürzt war, wurde ich von einer feindlichen Pike von hinten niedergestoßen. Ich sank in eine Ohnmacht, die einige Minuten dauerte- Als meine Besinnung zurückgekehrt war, fühlte ich, daß ich eine Wunde erhalten hatte, daß mir das Blut in den Schuhen stand und daß die Kosaken damit beschäftigt waren, mir Mantel und Montur auszuziehen. In dem Holze, wohin ich unter fortwährenden Schlägen gestoßen wurde, traf ich unter mehreren Lei¬ densgefährten einen gothaischen Feldwebel an, einen kleinen Mann mit blonden Haaren, dessen Name mir entfallen ist. Er fand bei der Untersuchung meiner Wunde, daß die Pike — durch den Mantel, in den ich mich gehüllt hatte, und durch den darunter befindlichen Pelz weniger schädlich gemacht — nur Zoll ins Fleisch, doch bis auf den Knochen gegangen war. Einige Tage lang drehte ich sogenannte Wiken in die Wunde, und sie verharschte und heilte trotz der großen Kälte. An diesen Unfall knüpfte sich aber eine lange Kette unaussprech¬ licher Leiden. Bei einem nahgelegenen Dorfe, wohin ich mit ungefähr 200 bis zum Abend in einem Holzwege zusammengetriebenen Gefangenen gebracht wurde, und wo ein russischer Offizier mit etwa 50 Mann Militär sich befand, mußten wir in der strengsten Kälte und vom fürchterlichstein Hunger gequält, unter freiem Himmel, bis zum anderen Tage zubringen. Dann wurden wir mit un¬ gefähr 800 Maun, die in der Nacht hierher gebracht worden waren, weiter transportirt — nicht einem erträglicheren Schicksale, sonder größerem Elende entgegen. Bei einer Meierei, wo schon etwa ebensoviel Gefangene hielten, und >vo uns ein höherer Offizier übernahm, wurde uns abermals das unter diesen Umständen schreckliche Loos, uns ohne eine erwärmende Flamme und ohne die geringste Nahrung im Freien aufhalten zu müssen. Dieses furchtbare Schicksal wurde aber dadurch noch gesteigert, daß wir des Nachts von Soldaten, ja selbst von Bauern durchsucht und geplündert wurden. Noch war mir zu meinem großen Troste meine Baarschaft geblieben, denn man ließ mir die Schuhe, welche sie bargen. Aus Furcht, daß auch meine Fußbekleidung Liebhaber finden und mir mit ihr auch meine Baarschaft — in so jammervoller Lage noch meine letzte Hilfe — entrissen werden dürfte, durchschnitt ich meine Schuhe auf allen Seiten, band sie sodann mit Lumpen und Stricken zusammen und gab vor, ich hätte sie der erfrorenen Füße wegen aufschneiden müssen. Daß ich am folgenden Morgen, als die Hälfte meiner Leidensgenossen theils durch Frost getödtet, theils verhungert war, mich noch unter den Lebenden befand, hatte ich einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/327>, abgerufen am 21.05.2024.