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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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würden. Daß England bei dem Tausche gewinnen müsse, war ihm eine aus¬
gemachte Sache; denn seine Ausfuhr nach der Türkei müßte, wie er ausge¬
rechnet, außerordentlich zunehmen, wenn jene russisch würde. Daraus folgerte
er indeß nicht, daß England der Eroberung Konstantinopels durch die Russen
Vorschub zu leisten habe, er verlangte nur, daß es sich in den Gang der Dinge
nicht einmische, weil ein europäisches Gleichgewicht nicht existire, niemals be¬
standen habe und niemals erreicht werden könne, und weil andererseits England,
das durch Gewalt und List so vieles an sich gerissen, nicht berufen sei, das
Gleichgewicht zu predigen und Uebergriffe zu verbieten.

Cobdens Standpunkt unterschied sich von dem der alten Whigs nicht in
der besonderen Anwendung, wohl aber in dem allgemeinen Grundgedanken.
1791, am 29. März, hatte Fox gerühmt, daß Rußland durch England in seinen
Absichten auf die Türkei gefördert worden, und mit Recht; denn es würde
Wahnsinn sein, wenn England auf das Wachse" der russischen Macht am
Schwarzen Meere eifersüchtig sein wollte, und Burke versicherte an demselben
Abende im Parlament, es sei etwas ganz Neues, daß man das türkische Reich
als zum europäischen Gleichgewichte gehörig betrachten wolle; aber keiner der
beiden Redner würde wie Cobden das europäische Gleichgewicht als Chimäre
bezeichnet haben. Mit großer Zuversicht sprach Cobden ferner die Prophezeiung
aus, in zwanzig Jahren werde das englische Volk allgemein zu der Einsicht ge¬
langt sein, daß die commercielle Größe und der Wohlstand Großbritanniens
nicht von Rußland, sondern von Amerika bedroht seien, und die Regierung
werde danach zu handeln genöthigt werden. Diese Weissagung wurde uicht er¬
füllt: England betheiligte sich am Krimkriege. Aber Cobden blieb bei seiner
Ansicht; hatte er doch auch gefragt, was es einem Engländer verschlage, wenn
die Ostsee ein russischer Binnensee werde.

Auf anderem Wege gelangte David Urquhart zu derselben Ansicht,' daß
es für England Thorheit sei, sich in den russisch-türkischen Streit zu mischen.
Er hielt zunächst die Pforte für stark genug, sich der Absichten Rußlands mit
Erfolg zu erwehren. Er sah die Türkei für lebensfähig an, weil er in ihrem
Verwaltungssysteme einen gesunden Kern, in dem, was dem europäischen Auge
als Chaos erscheint, einen Organismus mit einem einfachen obersten Grundsatze,
in den für despotisch verschrieenen Gewohnheiten ein im Herkommen wurzelndes,
der persönlichen Willkür unantastbares Gesetz entdeckt haben wollte. Er be¬
hauptete, hierin sei die Möglichkeit friedlichen Nebeneinanderlebens von Men¬
schen verschiedenen Stammes und Glaubens gegeben. Er bestritt das Vorhan¬
densein von Mißbräuchen und die Nothwendigkeit von Reformen nicht, wollte
letztere aber nicht nach abendländischen Begriffen, nicht nach der Schablone des
konstitutionellen Liberalismus zugeschnitten, sondern im ursprünglichen Geiste


würden. Daß England bei dem Tausche gewinnen müsse, war ihm eine aus¬
gemachte Sache; denn seine Ausfuhr nach der Türkei müßte, wie er ausge¬
rechnet, außerordentlich zunehmen, wenn jene russisch würde. Daraus folgerte
er indeß nicht, daß England der Eroberung Konstantinopels durch die Russen
Vorschub zu leisten habe, er verlangte nur, daß es sich in den Gang der Dinge
nicht einmische, weil ein europäisches Gleichgewicht nicht existire, niemals be¬
standen habe und niemals erreicht werden könne, und weil andererseits England,
das durch Gewalt und List so vieles an sich gerissen, nicht berufen sei, das
Gleichgewicht zu predigen und Uebergriffe zu verbieten.

Cobdens Standpunkt unterschied sich von dem der alten Whigs nicht in
der besonderen Anwendung, wohl aber in dem allgemeinen Grundgedanken.
1791, am 29. März, hatte Fox gerühmt, daß Rußland durch England in seinen
Absichten auf die Türkei gefördert worden, und mit Recht; denn es würde
Wahnsinn sein, wenn England auf das Wachse» der russischen Macht am
Schwarzen Meere eifersüchtig sein wollte, und Burke versicherte an demselben
Abende im Parlament, es sei etwas ganz Neues, daß man das türkische Reich
als zum europäischen Gleichgewichte gehörig betrachten wolle; aber keiner der
beiden Redner würde wie Cobden das europäische Gleichgewicht als Chimäre
bezeichnet haben. Mit großer Zuversicht sprach Cobden ferner die Prophezeiung
aus, in zwanzig Jahren werde das englische Volk allgemein zu der Einsicht ge¬
langt sein, daß die commercielle Größe und der Wohlstand Großbritanniens
nicht von Rußland, sondern von Amerika bedroht seien, und die Regierung
werde danach zu handeln genöthigt werden. Diese Weissagung wurde uicht er¬
füllt: England betheiligte sich am Krimkriege. Aber Cobden blieb bei seiner
Ansicht; hatte er doch auch gefragt, was es einem Engländer verschlage, wenn
die Ostsee ein russischer Binnensee werde.

Auf anderem Wege gelangte David Urquhart zu derselben Ansicht,' daß
es für England Thorheit sei, sich in den russisch-türkischen Streit zu mischen.
Er hielt zunächst die Pforte für stark genug, sich der Absichten Rußlands mit
Erfolg zu erwehren. Er sah die Türkei für lebensfähig an, weil er in ihrem
Verwaltungssysteme einen gesunden Kern, in dem, was dem europäischen Auge
als Chaos erscheint, einen Organismus mit einem einfachen obersten Grundsatze,
in den für despotisch verschrieenen Gewohnheiten ein im Herkommen wurzelndes,
der persönlichen Willkür unantastbares Gesetz entdeckt haben wollte. Er be¬
hauptete, hierin sei die Möglichkeit friedlichen Nebeneinanderlebens von Men¬
schen verschiedenen Stammes und Glaubens gegeben. Er bestritt das Vorhan¬
densein von Mißbräuchen und die Nothwendigkeit von Reformen nicht, wollte
letztere aber nicht nach abendländischen Begriffen, nicht nach der Schablone des
konstitutionellen Liberalismus zugeschnitten, sondern im ursprünglichen Geiste


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/391>, abgerufen am 22.05.2024.