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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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todten Christus auf dem Schoße der Mutter liegend vorführen, so noch in den
besprochenen Fresken des Ghirlandajo, macht sich vielmehr der Eindruck der
Unnatürlichkeit dadurch geltend, daß der Körper des Todten, eiues reifen, er¬
wachsenen Mannes, in einem starken äußeren Mißverhältniß zur Madonna
steht, die noch dazu, ihrem thatsächlichen Alter entsprechend, durchgängig als
eine Frau in vorgerückten Jahren aufgefaßt erscheint. Man wirst da unwill¬
kürlich die Frage auf, wie eine überdies vom tiefstem Schmerze überwältigte
Matrone diese Last zu tragen vermöge. Diesen Widerspruch beseitigt zu haben,
ist die große That des 25 jährigen Michel Angelo, der die dem Leichnam in
Wirklichkeit zukommende Größe reducirte, jedoch in einer Weise, daß der Be¬
schauer nicht im geringsten den Eindruck der Unwahrheit empfängt, sondern
wenn überhaupt, erst allmählich auf dem Wege der Reflexion sich Rechenschaft
über die bewußte Abweichung des Künstlers von dem natürlichen Verhältniß
der beiden Gestalten zu einander geben lernt. Durch diese Freiheit ist es ihm
gelungen, in seiner Pietn das in der neueren Kunst vor ihm nicht erreichte Ideal
einer plastischen Gruppe aufzustellen. Nicht minder als in der Reduction der
Größe Christi liegt in der kühnen Neuerung, der Madonna eine jugendliche
Bildung zu geben, ein hoher Idealismus, dem indeß schon in den Tagen des
Künstlers das Verständniß der Masse nicht zu folgen vermochte, wie die von
Ascanio Condivi") überlieferte Debatte bezeugt, die, zwischen ihm, dem Bio¬
graphen des Meisters, und diesem stattfand und dem Künstler Gelegenheit bot,
die realistischen Einwände gegen seine Auffassung zurückzuweisen. "Weißt du
nicht," so erwiedert er dem Genannten, der mit ihm über die jugendliche Er¬
scheinung der Gottesmutter verhandelt, "weißt du nicht, daß keusche Frauen sich
frischer erhalten als andere? Um wie viel mehr eine Jungfrau, die niemals
auch nur das geringste lüsterne Verlangen erfaßt, daß diesen Körper hätte ent¬
stellen können? Ja, ich will dir weiter sagen, daß eine solche Frische und
Jugendblüthe, abgesehen von diesem natürlichen Hergange, sich in ihr erhielt,
wie zu glaube" steht, auch durch göttliche Hilfe, um der Welt die ewige Jung¬
fräulichkeit und Reinheit der Mutter zu beweisen. Nicht nöthig war dies bei
dem Sohne, sondern vielmehr das Gegentheil; denn wollte ich zeigen, wie der
Gottessohn menschlichen Körper annahm und allem außer der Sünde unter¬
worfen war wie ein gewöhnlicher Mensch, so durfte das Menschliche nicht hinter
dem Göttlichen zurückstehen, sondern mußte in seinem natürliche" Laufe gelassen
werden, so daß er genau das Alter zeigen mußte, welches er hatte. Darum bil¬
dete ich die heilige Jungfrau jünger als ihr Alter es erheischt, und ließ den



Vita, <Zi Wedel ^nxolo LumiarioU, Kom-i, 1S63, x> 12. sBgl. die Übersetzung in
D, Red.Z den "Quellenschriften für Kunstgeschichte" Wien, 1874, VI, S. 26 fg.
Grenzboten III. 1830. S

todten Christus auf dem Schoße der Mutter liegend vorführen, so noch in den
besprochenen Fresken des Ghirlandajo, macht sich vielmehr der Eindruck der
Unnatürlichkeit dadurch geltend, daß der Körper des Todten, eiues reifen, er¬
wachsenen Mannes, in einem starken äußeren Mißverhältniß zur Madonna
steht, die noch dazu, ihrem thatsächlichen Alter entsprechend, durchgängig als
eine Frau in vorgerückten Jahren aufgefaßt erscheint. Man wirst da unwill¬
kürlich die Frage auf, wie eine überdies vom tiefstem Schmerze überwältigte
Matrone diese Last zu tragen vermöge. Diesen Widerspruch beseitigt zu haben,
ist die große That des 25 jährigen Michel Angelo, der die dem Leichnam in
Wirklichkeit zukommende Größe reducirte, jedoch in einer Weise, daß der Be¬
schauer nicht im geringsten den Eindruck der Unwahrheit empfängt, sondern
wenn überhaupt, erst allmählich auf dem Wege der Reflexion sich Rechenschaft
über die bewußte Abweichung des Künstlers von dem natürlichen Verhältniß
der beiden Gestalten zu einander geben lernt. Durch diese Freiheit ist es ihm
gelungen, in seiner Pietn das in der neueren Kunst vor ihm nicht erreichte Ideal
einer plastischen Gruppe aufzustellen. Nicht minder als in der Reduction der
Größe Christi liegt in der kühnen Neuerung, der Madonna eine jugendliche
Bildung zu geben, ein hoher Idealismus, dem indeß schon in den Tagen des
Künstlers das Verständniß der Masse nicht zu folgen vermochte, wie die von
Ascanio Condivi") überlieferte Debatte bezeugt, die, zwischen ihm, dem Bio¬
graphen des Meisters, und diesem stattfand und dem Künstler Gelegenheit bot,
die realistischen Einwände gegen seine Auffassung zurückzuweisen. „Weißt du
nicht," so erwiedert er dem Genannten, der mit ihm über die jugendliche Er¬
scheinung der Gottesmutter verhandelt, „weißt du nicht, daß keusche Frauen sich
frischer erhalten als andere? Um wie viel mehr eine Jungfrau, die niemals
auch nur das geringste lüsterne Verlangen erfaßt, daß diesen Körper hätte ent¬
stellen können? Ja, ich will dir weiter sagen, daß eine solche Frische und
Jugendblüthe, abgesehen von diesem natürlichen Hergange, sich in ihr erhielt,
wie zu glaube» steht, auch durch göttliche Hilfe, um der Welt die ewige Jung¬
fräulichkeit und Reinheit der Mutter zu beweisen. Nicht nöthig war dies bei
dem Sohne, sondern vielmehr das Gegentheil; denn wollte ich zeigen, wie der
Gottessohn menschlichen Körper annahm und allem außer der Sünde unter¬
worfen war wie ein gewöhnlicher Mensch, so durfte das Menschliche nicht hinter
dem Göttlichen zurückstehen, sondern mußte in seinem natürliche» Laufe gelassen
werden, so daß er genau das Alter zeigen mußte, welches er hatte. Darum bil¬
dete ich die heilige Jungfrau jünger als ihr Alter es erheischt, und ließ den



Vita, <Zi Wedel ^nxolo LumiarioU, Kom-i, 1S63, x> 12. sBgl. die Übersetzung in
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[0041] todten Christus auf dem Schoße der Mutter liegend vorführen, so noch in den besprochenen Fresken des Ghirlandajo, macht sich vielmehr der Eindruck der Unnatürlichkeit dadurch geltend, daß der Körper des Todten, eiues reifen, er¬ wachsenen Mannes, in einem starken äußeren Mißverhältniß zur Madonna steht, die noch dazu, ihrem thatsächlichen Alter entsprechend, durchgängig als eine Frau in vorgerückten Jahren aufgefaßt erscheint. Man wirst da unwill¬ kürlich die Frage auf, wie eine überdies vom tiefstem Schmerze überwältigte Matrone diese Last zu tragen vermöge. Diesen Widerspruch beseitigt zu haben, ist die große That des 25 jährigen Michel Angelo, der die dem Leichnam in Wirklichkeit zukommende Größe reducirte, jedoch in einer Weise, daß der Be¬ schauer nicht im geringsten den Eindruck der Unwahrheit empfängt, sondern wenn überhaupt, erst allmählich auf dem Wege der Reflexion sich Rechenschaft über die bewußte Abweichung des Künstlers von dem natürlichen Verhältniß der beiden Gestalten zu einander geben lernt. Durch diese Freiheit ist es ihm gelungen, in seiner Pietn das in der neueren Kunst vor ihm nicht erreichte Ideal einer plastischen Gruppe aufzustellen. Nicht minder als in der Reduction der Größe Christi liegt in der kühnen Neuerung, der Madonna eine jugendliche Bildung zu geben, ein hoher Idealismus, dem indeß schon in den Tagen des Künstlers das Verständniß der Masse nicht zu folgen vermochte, wie die von Ascanio Condivi") überlieferte Debatte bezeugt, die, zwischen ihm, dem Bio¬ graphen des Meisters, und diesem stattfand und dem Künstler Gelegenheit bot, die realistischen Einwände gegen seine Auffassung zurückzuweisen. „Weißt du nicht," so erwiedert er dem Genannten, der mit ihm über die jugendliche Er¬ scheinung der Gottesmutter verhandelt, „weißt du nicht, daß keusche Frauen sich frischer erhalten als andere? Um wie viel mehr eine Jungfrau, die niemals auch nur das geringste lüsterne Verlangen erfaßt, daß diesen Körper hätte ent¬ stellen können? Ja, ich will dir weiter sagen, daß eine solche Frische und Jugendblüthe, abgesehen von diesem natürlichen Hergange, sich in ihr erhielt, wie zu glaube» steht, auch durch göttliche Hilfe, um der Welt die ewige Jung¬ fräulichkeit und Reinheit der Mutter zu beweisen. Nicht nöthig war dies bei dem Sohne, sondern vielmehr das Gegentheil; denn wollte ich zeigen, wie der Gottessohn menschlichen Körper annahm und allem außer der Sünde unter¬ worfen war wie ein gewöhnlicher Mensch, so durfte das Menschliche nicht hinter dem Göttlichen zurückstehen, sondern mußte in seinem natürliche» Laufe gelassen werden, so daß er genau das Alter zeigen mußte, welches er hatte. Darum bil¬ dete ich die heilige Jungfrau jünger als ihr Alter es erheischt, und ließ den Vita, <Zi Wedel ^nxolo LumiarioU, Kom-i, 1S63, x> 12. sBgl. die Übersetzung in D, Red.Z den „Quellenschriften für Kunstgeschichte" Wien, 1874, VI, S. 26 fg. Grenzboten III. 1830. S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/41>, abgerufen am 20.05.2024.