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Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal.

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stranden Darstellung, die sich mit dem Begriff der Hegelschen Philosophie un¬
willkürlich verknüpft, wäre unbegründet. Was Mariano der Hegelschen Philo¬
sophie entnommen hat, sind, soweit unsere Schrift in Betracht kommt, nur ge¬
wisse Grundanschauungen religiöser, sittlicher, politischer, geschichtlicher Art, die
er auf die Verhältnisse der Gegenwart anwendet und in leichter, durchsichtiger,
schöner Sprache entwickelt. Nach dieser allgemeinen Charakteristik unserer Schrift
wenden wir uns zu den einzelnen Abschnitten derselben, theils berichtend, theils
ergänzend, theils prüfend.

Von der Bekämpfung der Religion durch den Naturalismus, von dem
Versuch des letzteren, jene zu ersetzen, nimmt Mariano seinen Ausgang. Nach
einem volltönenden Zeugniß für die Realität der Religion, ihre Unzerstörbarkeit
in der menschlichen Seele, ihre das ganze geschichtliche Leben der Volker tra¬
gende Gewalt, für die Wesenhaftigkeit ihres Objects, Gottes, zeigt er die Nichtig¬
keit des Naturalismus. Auf die Erfahrung beschränkt, kann die Naturwissen-
schaft auch nur Erfahrungen sammeln und ordnen. Sobald sie die Natur als
Ganzes zu erfassen, als Einheit zu begreifen unternimmt, geht sie über die Er¬
fahrung hinaus und begiebt sich auf das Gebiet idealer Constructionen, apriori¬
scher Speculationen. Die Naturwissenschaft kann eine Wissenschaft der Natur nicht
hervorbringen, denn der Begriff des Alls, der Einheit, der Natur als Ge-
sammtorganismus ist auf ihrem Arbeitsfelde nicht zu finden. Der Naturalis¬
mus, der dennoch zu diesem Wagniß sich entschließt, ist daher nichts als eine
schlechte Philosophie. Auch der Darwinismus, wenn er etwas andres sein will
als eine Darstellung der für den Entwicklungsproceß des Naturlebens bedin¬
genden Factoren, wenn er als eine Welterklärung sich darbietet, ist nichts bes¬
seres. Weder der specifische Charakter der einzelnen Wesen noch die Harmonie
des Weltsystems werden so begriffen. Die miserabelste Philosophie bleibt aber
der Materialismus'. Schon innerhalb der Physiologie zeigt sich seine Leistungs¬
unfähigkeit. Läßt sich doch der Vorgang des Sehens nicht einmal aus den
materiellen Bedingungen ausschließlich ableiten. Die genaueste Untersuchung
über den Bau des Auges, die sorgfältigste Analyse der Substanzen, aus denen
es gebildet ist, die schärfste Berechnung der Beziehungen der Nerven und Mus¬
keln, die das Sehen bedingen, machen uns dieses selbst noch nicht verständlich.
Ohne das Hinzukommen eines geistigen Vorgangs, eines idealen Actes würde
das Sehen nicht stattfinden. Sind so schon die physiologischen Thatsachen nur
unter Voraussetzung eines übersinnlichen Elementes begreiflich, wie vergeblich
muß jeder Versuch bleiben, das Leben der Seele und des Geistes, die geschicht¬
liche Entwicklung der Menschheit aus Zuständen und Veränderungen der Materie
abzuleiten. Die Sphäre der Nothwendigkeit, in deren Grenze diese gebannt ist,
und die Sphäre der Freiheit, welcher das Sein und Wirken des Geistes auge-


stranden Darstellung, die sich mit dem Begriff der Hegelschen Philosophie un¬
willkürlich verknüpft, wäre unbegründet. Was Mariano der Hegelschen Philo¬
sophie entnommen hat, sind, soweit unsere Schrift in Betracht kommt, nur ge¬
wisse Grundanschauungen religiöser, sittlicher, politischer, geschichtlicher Art, die
er auf die Verhältnisse der Gegenwart anwendet und in leichter, durchsichtiger,
schöner Sprache entwickelt. Nach dieser allgemeinen Charakteristik unserer Schrift
wenden wir uns zu den einzelnen Abschnitten derselben, theils berichtend, theils
ergänzend, theils prüfend.

Von der Bekämpfung der Religion durch den Naturalismus, von dem
Versuch des letzteren, jene zu ersetzen, nimmt Mariano seinen Ausgang. Nach
einem volltönenden Zeugniß für die Realität der Religion, ihre Unzerstörbarkeit
in der menschlichen Seele, ihre das ganze geschichtliche Leben der Volker tra¬
gende Gewalt, für die Wesenhaftigkeit ihres Objects, Gottes, zeigt er die Nichtig¬
keit des Naturalismus. Auf die Erfahrung beschränkt, kann die Naturwissen-
schaft auch nur Erfahrungen sammeln und ordnen. Sobald sie die Natur als
Ganzes zu erfassen, als Einheit zu begreifen unternimmt, geht sie über die Er¬
fahrung hinaus und begiebt sich auf das Gebiet idealer Constructionen, apriori¬
scher Speculationen. Die Naturwissenschaft kann eine Wissenschaft der Natur nicht
hervorbringen, denn der Begriff des Alls, der Einheit, der Natur als Ge-
sammtorganismus ist auf ihrem Arbeitsfelde nicht zu finden. Der Naturalis¬
mus, der dennoch zu diesem Wagniß sich entschließt, ist daher nichts als eine
schlechte Philosophie. Auch der Darwinismus, wenn er etwas andres sein will
als eine Darstellung der für den Entwicklungsproceß des Naturlebens bedin¬
genden Factoren, wenn er als eine Welterklärung sich darbietet, ist nichts bes¬
seres. Weder der specifische Charakter der einzelnen Wesen noch die Harmonie
des Weltsystems werden so begriffen. Die miserabelste Philosophie bleibt aber
der Materialismus'. Schon innerhalb der Physiologie zeigt sich seine Leistungs¬
unfähigkeit. Läßt sich doch der Vorgang des Sehens nicht einmal aus den
materiellen Bedingungen ausschließlich ableiten. Die genaueste Untersuchung
über den Bau des Auges, die sorgfältigste Analyse der Substanzen, aus denen
es gebildet ist, die schärfste Berechnung der Beziehungen der Nerven und Mus¬
keln, die das Sehen bedingen, machen uns dieses selbst noch nicht verständlich.
Ohne das Hinzukommen eines geistigen Vorgangs, eines idealen Actes würde
das Sehen nicht stattfinden. Sind so schon die physiologischen Thatsachen nur
unter Voraussetzung eines übersinnlichen Elementes begreiflich, wie vergeblich
muß jeder Versuch bleiben, das Leben der Seele und des Geistes, die geschicht¬
liche Entwicklung der Menschheit aus Zuständen und Veränderungen der Materie
abzuleiten. Die Sphäre der Nothwendigkeit, in deren Grenze diese gebannt ist,
und die Sphäre der Freiheit, welcher das Sein und Wirken des Geistes auge-


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[0515] stranden Darstellung, die sich mit dem Begriff der Hegelschen Philosophie un¬ willkürlich verknüpft, wäre unbegründet. Was Mariano der Hegelschen Philo¬ sophie entnommen hat, sind, soweit unsere Schrift in Betracht kommt, nur ge¬ wisse Grundanschauungen religiöser, sittlicher, politischer, geschichtlicher Art, die er auf die Verhältnisse der Gegenwart anwendet und in leichter, durchsichtiger, schöner Sprache entwickelt. Nach dieser allgemeinen Charakteristik unserer Schrift wenden wir uns zu den einzelnen Abschnitten derselben, theils berichtend, theils ergänzend, theils prüfend. Von der Bekämpfung der Religion durch den Naturalismus, von dem Versuch des letzteren, jene zu ersetzen, nimmt Mariano seinen Ausgang. Nach einem volltönenden Zeugniß für die Realität der Religion, ihre Unzerstörbarkeit in der menschlichen Seele, ihre das ganze geschichtliche Leben der Volker tra¬ gende Gewalt, für die Wesenhaftigkeit ihres Objects, Gottes, zeigt er die Nichtig¬ keit des Naturalismus. Auf die Erfahrung beschränkt, kann die Naturwissen- schaft auch nur Erfahrungen sammeln und ordnen. Sobald sie die Natur als Ganzes zu erfassen, als Einheit zu begreifen unternimmt, geht sie über die Er¬ fahrung hinaus und begiebt sich auf das Gebiet idealer Constructionen, apriori¬ scher Speculationen. Die Naturwissenschaft kann eine Wissenschaft der Natur nicht hervorbringen, denn der Begriff des Alls, der Einheit, der Natur als Ge- sammtorganismus ist auf ihrem Arbeitsfelde nicht zu finden. Der Naturalis¬ mus, der dennoch zu diesem Wagniß sich entschließt, ist daher nichts als eine schlechte Philosophie. Auch der Darwinismus, wenn er etwas andres sein will als eine Darstellung der für den Entwicklungsproceß des Naturlebens bedin¬ genden Factoren, wenn er als eine Welterklärung sich darbietet, ist nichts bes¬ seres. Weder der specifische Charakter der einzelnen Wesen noch die Harmonie des Weltsystems werden so begriffen. Die miserabelste Philosophie bleibt aber der Materialismus'. Schon innerhalb der Physiologie zeigt sich seine Leistungs¬ unfähigkeit. Läßt sich doch der Vorgang des Sehens nicht einmal aus den materiellen Bedingungen ausschließlich ableiten. Die genaueste Untersuchung über den Bau des Auges, die sorgfältigste Analyse der Substanzen, aus denen es gebildet ist, die schärfste Berechnung der Beziehungen der Nerven und Mus¬ keln, die das Sehen bedingen, machen uns dieses selbst noch nicht verständlich. Ohne das Hinzukommen eines geistigen Vorgangs, eines idealen Actes würde das Sehen nicht stattfinden. Sind so schon die physiologischen Thatsachen nur unter Voraussetzung eines übersinnlichen Elementes begreiflich, wie vergeblich muß jeder Versuch bleiben, das Leben der Seele und des Geistes, die geschicht¬ liche Entwicklung der Menschheit aus Zuständen und Veränderungen der Materie abzuleiten. Die Sphäre der Nothwendigkeit, in deren Grenze diese gebannt ist, und die Sphäre der Freiheit, welcher das Sein und Wirken des Geistes auge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 39, 1880, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341831_157693/515>, abgerufen am 22.05.2024.