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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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politische Briefe.

sie die Kritik ausschließlich der Opposition überläßt und sich nur vorbehält,
mit der Opposition zu stimmen, falls sie den Führer auf einem Wege glaubt,
der das Parteiinteresse und das Interesse des Staates gefährden kann. Die
englischen Parlamentsverhandlungen bieten sehr selten das Schauspiel von Partei¬
gefechten, dafür in der Regel das Bild einer Konversation des leitenden Mini¬
sters mit den Führern und auch einzelnen nichtführenden Mitgliedern der Gegen¬
partei; die eigene Partei ruft bloß odssr und lisar. Wenn unsere National¬
liberalen sich darauf beschränken wollen, wird Fürst Bismarck nichts dagegen
haben, sich ihnen als Führer zu verschreiben. Aber es ist schwer, Führer zu
sein, wenn man darin die meisten Schwierigkeiten bei der eignen Partei finden
soll. Doch dieses Führerverhältniß sammt der ganzen parlamentarischen Regie¬
rung wird nie auf deutschen Boden verpflanzt werden. Sehen wir also davon
ab, kehren wir zu unserm Zeichen zurück.

Das englische Parlament ist omnipotent, weil es nicht einer Executive
gegenübersteht, sondern selbst nichts anderes ist als die in sich selbst, aber
öffentlich berathende Executive. Daraus hat Gneist die für alle Orte und
Zeiten giltige Regel abstrahirt: Die Gesetze kann nur geben, wer sie ausführt.

Wollte nun ein naiver Liberaler ausrufen: Das ist ja wunderschön,
genau das wollen wir auch! so sei ihm folgendes vor Augen gestellt. Die
einzige Möglichkeit, bei dieser Art von Bildung der Executive eine wirkliche
Regierung zu erhalten, liegt darin, daß man nur in die Executive gelangen
kann, wenn man über Hunderttausende von Pfunden mindestens als Capital, am
liebsten aber als Rente verfügt. Das ist freilich durch kein Gesetz vorgeschrieben,
aber die Lasten der Selbstverwaltung kann nur der reiche Grundbesitzer tragen,
und der große Grundbesitz ist durch die Institution der Primogenitur und der
Majorate in England erblich, wenigstens der Sache nach, so unklar und ver¬
wickelt auch die Rechtsfragen sind. Wenn man das will, so kann man den
Parlamentarismus haben, sonst nicht. Die "National - Zeitung," um nur die
angesehenste Stimme dieser Art zu nennen, hat kürzlich wieder mehrmals hinter
einander behauptet, die parlamentarische Regierung sei das Besitzthum aller ge¬
bildeten Völker, nur dem deutschen Volke werde sie entzogen. Das Besitzthum
ist sie, aber um den Preis der chronischen Anarchie des Staats und der
Schwindsucht aller unter diesem Regiment lebenden Nationen. Was thut der
Parlamentarismus in Spanien, Italien, Griechenland, als diese Länder nach
einem hoffnungsvollen Aufschwünge dem Untergange entgegenführen? Wo die
mit dem parlamentarischen Regiment gesegneten Länder dem Abgrunde nicht zu¬
eilen, da verdanken sie dies dem Umstände, daß die parlamentarische Regierung
zu einem guten Theile noch Schein ist, daß es mächtige Factoren außerhalb
derselben giebt, welche die mühsame Aufgabe haben, den Staat vom Untergange


politische Briefe.

sie die Kritik ausschließlich der Opposition überläßt und sich nur vorbehält,
mit der Opposition zu stimmen, falls sie den Führer auf einem Wege glaubt,
der das Parteiinteresse und das Interesse des Staates gefährden kann. Die
englischen Parlamentsverhandlungen bieten sehr selten das Schauspiel von Partei¬
gefechten, dafür in der Regel das Bild einer Konversation des leitenden Mini¬
sters mit den Führern und auch einzelnen nichtführenden Mitgliedern der Gegen¬
partei; die eigene Partei ruft bloß odssr und lisar. Wenn unsere National¬
liberalen sich darauf beschränken wollen, wird Fürst Bismarck nichts dagegen
haben, sich ihnen als Führer zu verschreiben. Aber es ist schwer, Führer zu
sein, wenn man darin die meisten Schwierigkeiten bei der eignen Partei finden
soll. Doch dieses Führerverhältniß sammt der ganzen parlamentarischen Regie¬
rung wird nie auf deutschen Boden verpflanzt werden. Sehen wir also davon
ab, kehren wir zu unserm Zeichen zurück.

Das englische Parlament ist omnipotent, weil es nicht einer Executive
gegenübersteht, sondern selbst nichts anderes ist als die in sich selbst, aber
öffentlich berathende Executive. Daraus hat Gneist die für alle Orte und
Zeiten giltige Regel abstrahirt: Die Gesetze kann nur geben, wer sie ausführt.

Wollte nun ein naiver Liberaler ausrufen: Das ist ja wunderschön,
genau das wollen wir auch! so sei ihm folgendes vor Augen gestellt. Die
einzige Möglichkeit, bei dieser Art von Bildung der Executive eine wirkliche
Regierung zu erhalten, liegt darin, daß man nur in die Executive gelangen
kann, wenn man über Hunderttausende von Pfunden mindestens als Capital, am
liebsten aber als Rente verfügt. Das ist freilich durch kein Gesetz vorgeschrieben,
aber die Lasten der Selbstverwaltung kann nur der reiche Grundbesitzer tragen,
und der große Grundbesitz ist durch die Institution der Primogenitur und der
Majorate in England erblich, wenigstens der Sache nach, so unklar und ver¬
wickelt auch die Rechtsfragen sind. Wenn man das will, so kann man den
Parlamentarismus haben, sonst nicht. Die „National - Zeitung," um nur die
angesehenste Stimme dieser Art zu nennen, hat kürzlich wieder mehrmals hinter
einander behauptet, die parlamentarische Regierung sei das Besitzthum aller ge¬
bildeten Völker, nur dem deutschen Volke werde sie entzogen. Das Besitzthum
ist sie, aber um den Preis der chronischen Anarchie des Staats und der
Schwindsucht aller unter diesem Regiment lebenden Nationen. Was thut der
Parlamentarismus in Spanien, Italien, Griechenland, als diese Länder nach
einem hoffnungsvollen Aufschwünge dem Untergange entgegenführen? Wo die
mit dem parlamentarischen Regiment gesegneten Länder dem Abgrunde nicht zu¬
eilen, da verdanken sie dies dem Umstände, daß die parlamentarische Regierung
zu einem guten Theile noch Schein ist, daß es mächtige Factoren außerhalb
derselben giebt, welche die mühsame Aufgabe haben, den Staat vom Untergange


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/108>, abgerufen am 04.06.2024.