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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Politische Briefe.

lauert und Regierung zur Voraussetzung seit. Für diesen Typus verbitten
wir uns aber den Ausdruck constitutionell. Vielleicht könnte man die deutsche
Monarchie nach dem Vorschlag eines Mannes, der sonst wenig glückliche Ein¬
fälle gehabt hat, nämlich Stahls, "institutionell" nennen.

Die Hauptsache für einen eigenthümlich deutschen Verfassungstypus wäre
also, daß die deutsche Geduld, Schonung und Gewissenhaftigkeit sich einen Zu¬
stand denken könnte, wo Parlament und Regierung zeitweise neben einander
gehen, wo also der laufende Staatsapparat zwar nicht still steht, wohl aber
der fortschreitende productive Staatswille, bis von der einen oder der andern
Seite, sei es von der Regierung, sei es von dem Parlament, eine Accomodation
an den Willen des andern Theils erfolgt. Man könnte sagen, daß ein solcher
Zustand der hergebrachte in Deutschland sei, und daß er namentlich von 1815
bis 1848 in den kleinern deutschen Staaten bestanden habe. Bald nach 1848
hat Robert v. Mohl diesen Zustand, den schon er dualistisch nannte, gekenn¬
zeichnet und verurtheilt, weil auf die Dauer kein Staat bei einem zweigetheilten
Willen bestehen könne. Wir werden gleichwohl die Pflicht haben, die Anwend¬
barkeit dieses Zustandes ernstlicher als bisher zu prüfen. Die kleinen Staaten
von 1815 -- 1848 sind keine Instanz, weil sie nicht unabhängig, weil sie keine
Staaten waren. Ihre Regierungen konnten w inüniwm dem öffentlichen Geiste
trotzen, weil sie sich auf den Bundestag und auf die absolutistischen Großstaaten
in demselben stützten. Heute könnte eine deutsche Regierung und vor allem
die Centralregierung nur unter schweren äußern und innern Gefahren sich der
Einwirkung des öffentlichen Geistes entziehen, wo dieser Geist einen wirklichen
Willen, eine einheitliche, faßbare Ueberzeugung zum Vorschein bringt. Man
erwäge, daß diese dualistische Form: ein freies Parlament neben einer freien
Executive, die einzige ist, welche mit der allgemein angenommenen Theorie des
Verfassungsstaates Ernst macht. Denn diese Theorie fordert die Vereinigung
unabhängiger Factoren zu einem gemeinsamen Willen durch moralische Mittel.
Die sogenannte parlamentarische Regierung ist aber nichts anderes als der Er¬
satz moralischer Mittel durch mechanische, also in Wahrheit die Annullirung der
nach der Theorie selbständigen Mitfactoren zu Gunsten des einen von ihnen.
Ein mechanisches Mittel ist es, wenn man den Staat nach einem treffenden
Ausdrucke von Gneist in seiner neuesten Schrift auf das Existenzminimum setzt
und jeden Pfennig über dieses Minimum hinaus der Executive nur unter der
Bedingung bewilligt, daß sie sich zum Sklaven der Majorität mache. Dabei
würde man bald die vollkommene Zerrüttung des Staates erleben. Und doch
ist es dieses Trugbild, entstanden aus einer ganz falschen Conception von dem
Wesen des englischen Staates und seiner oligarchischen Negierungsfractionen,
von welchem unsere Nationalliberalen sich nicht losreißen können. Nicht aus


Politische Briefe.

lauert und Regierung zur Voraussetzung seit. Für diesen Typus verbitten
wir uns aber den Ausdruck constitutionell. Vielleicht könnte man die deutsche
Monarchie nach dem Vorschlag eines Mannes, der sonst wenig glückliche Ein¬
fälle gehabt hat, nämlich Stahls, „institutionell" nennen.

Die Hauptsache für einen eigenthümlich deutschen Verfassungstypus wäre
also, daß die deutsche Geduld, Schonung und Gewissenhaftigkeit sich einen Zu¬
stand denken könnte, wo Parlament und Regierung zeitweise neben einander
gehen, wo also der laufende Staatsapparat zwar nicht still steht, wohl aber
der fortschreitende productive Staatswille, bis von der einen oder der andern
Seite, sei es von der Regierung, sei es von dem Parlament, eine Accomodation
an den Willen des andern Theils erfolgt. Man könnte sagen, daß ein solcher
Zustand der hergebrachte in Deutschland sei, und daß er namentlich von 1815
bis 1848 in den kleinern deutschen Staaten bestanden habe. Bald nach 1848
hat Robert v. Mohl diesen Zustand, den schon er dualistisch nannte, gekenn¬
zeichnet und verurtheilt, weil auf die Dauer kein Staat bei einem zweigetheilten
Willen bestehen könne. Wir werden gleichwohl die Pflicht haben, die Anwend¬
barkeit dieses Zustandes ernstlicher als bisher zu prüfen. Die kleinen Staaten
von 1815 — 1848 sind keine Instanz, weil sie nicht unabhängig, weil sie keine
Staaten waren. Ihre Regierungen konnten w inüniwm dem öffentlichen Geiste
trotzen, weil sie sich auf den Bundestag und auf die absolutistischen Großstaaten
in demselben stützten. Heute könnte eine deutsche Regierung und vor allem
die Centralregierung nur unter schweren äußern und innern Gefahren sich der
Einwirkung des öffentlichen Geistes entziehen, wo dieser Geist einen wirklichen
Willen, eine einheitliche, faßbare Ueberzeugung zum Vorschein bringt. Man
erwäge, daß diese dualistische Form: ein freies Parlament neben einer freien
Executive, die einzige ist, welche mit der allgemein angenommenen Theorie des
Verfassungsstaates Ernst macht. Denn diese Theorie fordert die Vereinigung
unabhängiger Factoren zu einem gemeinsamen Willen durch moralische Mittel.
Die sogenannte parlamentarische Regierung ist aber nichts anderes als der Er¬
satz moralischer Mittel durch mechanische, also in Wahrheit die Annullirung der
nach der Theorie selbständigen Mitfactoren zu Gunsten des einen von ihnen.
Ein mechanisches Mittel ist es, wenn man den Staat nach einem treffenden
Ausdrucke von Gneist in seiner neuesten Schrift auf das Existenzminimum setzt
und jeden Pfennig über dieses Minimum hinaus der Executive nur unter der
Bedingung bewilligt, daß sie sich zum Sklaven der Majorität mache. Dabei
würde man bald die vollkommene Zerrüttung des Staates erleben. Und doch
ist es dieses Trugbild, entstanden aus einer ganz falschen Conception von dem
Wesen des englischen Staates und seiner oligarchischen Negierungsfractionen,
von welchem unsere Nationalliberalen sich nicht losreißen können. Nicht aus


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/111>, abgerufen am 29.05.2024.