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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate.

gedankens, welche sich in Preußens Königen und Staatsmännern immer leben¬
diger personificirte, von dem Volke zunächst mit Mißtrauen aufgenommen wurde!

Jedes Unrecht, welches vom Staate ausgeht, äußert sich materiell in dem
Schaden, den es einzelnen oder ganzen Ländern zufügt, ideal in der Verletzung
der Idee des Rechts als einer Wesenheit, die über unsrer Erscheinungswelt
steht, und in der Entfesselung der Geister des gekränkten Rechts durch die
Selbsthilfe. Die Verzweiflung des sittlichen Willens einer Nation oder eines
einzelnen an der Möglichkeit, auf gesetzlichen! Wege Abhilfe gegen das Unrecht
zu erhalten, ist der letzte Grund aller wirklichen Revolutionen. Geradezu heraus¬
gefordert werden die destructiven Bestrebungen, wenn der Staat von oben herab
das Unrecht schützt und wenn an Stelle des Gemeinsinnes und des Rechts
Egoismus und Gewalt treten. Solche Zustände erblicken wir im mittelalterlichen
Italien und in den davon heute noch sichtbaren Ueberbleibseln.

Ein Staatsregiment, welches von oben bona, nah irrthümliche Maßregeln
ergreift und sie durch Beamtenallmacht und Beamtenwillkür in zehnfach verderb¬
licher Wirkung ins Land trägt, zeigt die Regierung Nicolaus' I. in Rußland.

Große Irrthümer in Bezug auf die allgemeinen Staatsziele und in Folge
dessen Unrecht und Mißtrauen finden wir in Frankreich, England,
Spanien. Ueberall spiegeln sich die eigentlichen Fehler der Staatsleitung im
Beamtenthum wieder. Endlich werden wir sehen, daß Deutschland im großen
und ganzen von Irrthümern und willkürlicher Handhabung der Gewalt weiter
entfernt ist als irgend ein andrer Staat.

Eine besondere Quelle singulären Unrechts ist die gesetzlose Willkür von
Seiten einzelner Beamten, durch welche unter dem Schutze der Gesetze das
Recht gebeugt werden kann. Durch die fortwährende Ausbreitung des staat¬
lichen Einflusses in der modernen Zeit sind die Beamten immer zahlreicher ge¬
worden und allmählich große Beamtenheere entstanden. Der moderne Staat
bedarf daher mehr denn je gesetzlicher Mittel, um dem einzelnen, welcher be¬
drückt worden ist, die Erfordernisse zu gewähren, gegen ungerechte Beamte auf¬
zutreten. Wird der einzelne, dem Unrecht nach seiner Meinung geschehen ist,
nicht geschützt, so fühlt sich das Beamtenthum nicht mehr als Ausfluß der sitt¬
lichen Idee der Staatsgewalt, sondern als Machtclique, welche um ihres Standes
willen den unbequemen Querulanten erdrückt. Die Gefahr besteht also darin,
daß die Allmacht des Beamtenthums die besten Absichten des Staates, den
destructiven Tendenzen ihren Vorwand zu nehmen, vereitelt, und daß trotz der
fortschreitenden Entwicklung des öffentlichen Lebens der gefährliche Gedanke bei
den Massen Raum gewinnt, Macht gehe vor Recht. Der Staat ist aber nicht
nur Macht, sondern auch Sittlichkeit, d. h. eine sittliche Macht. Ist er nur
Macht, so bildet sich bald eine andere, nämlich eine destructive Macht, die sich


Die destructiven Elemente im Staate.

gedankens, welche sich in Preußens Königen und Staatsmännern immer leben¬
diger personificirte, von dem Volke zunächst mit Mißtrauen aufgenommen wurde!

Jedes Unrecht, welches vom Staate ausgeht, äußert sich materiell in dem
Schaden, den es einzelnen oder ganzen Ländern zufügt, ideal in der Verletzung
der Idee des Rechts als einer Wesenheit, die über unsrer Erscheinungswelt
steht, und in der Entfesselung der Geister des gekränkten Rechts durch die
Selbsthilfe. Die Verzweiflung des sittlichen Willens einer Nation oder eines
einzelnen an der Möglichkeit, auf gesetzlichen! Wege Abhilfe gegen das Unrecht
zu erhalten, ist der letzte Grund aller wirklichen Revolutionen. Geradezu heraus¬
gefordert werden die destructiven Bestrebungen, wenn der Staat von oben herab
das Unrecht schützt und wenn an Stelle des Gemeinsinnes und des Rechts
Egoismus und Gewalt treten. Solche Zustände erblicken wir im mittelalterlichen
Italien und in den davon heute noch sichtbaren Ueberbleibseln.

Ein Staatsregiment, welches von oben bona, nah irrthümliche Maßregeln
ergreift und sie durch Beamtenallmacht und Beamtenwillkür in zehnfach verderb¬
licher Wirkung ins Land trägt, zeigt die Regierung Nicolaus' I. in Rußland.

Große Irrthümer in Bezug auf die allgemeinen Staatsziele und in Folge
dessen Unrecht und Mißtrauen finden wir in Frankreich, England,
Spanien. Ueberall spiegeln sich die eigentlichen Fehler der Staatsleitung im
Beamtenthum wieder. Endlich werden wir sehen, daß Deutschland im großen
und ganzen von Irrthümern und willkürlicher Handhabung der Gewalt weiter
entfernt ist als irgend ein andrer Staat.

Eine besondere Quelle singulären Unrechts ist die gesetzlose Willkür von
Seiten einzelner Beamten, durch welche unter dem Schutze der Gesetze das
Recht gebeugt werden kann. Durch die fortwährende Ausbreitung des staat¬
lichen Einflusses in der modernen Zeit sind die Beamten immer zahlreicher ge¬
worden und allmählich große Beamtenheere entstanden. Der moderne Staat
bedarf daher mehr denn je gesetzlicher Mittel, um dem einzelnen, welcher be¬
drückt worden ist, die Erfordernisse zu gewähren, gegen ungerechte Beamte auf¬
zutreten. Wird der einzelne, dem Unrecht nach seiner Meinung geschehen ist,
nicht geschützt, so fühlt sich das Beamtenthum nicht mehr als Ausfluß der sitt¬
lichen Idee der Staatsgewalt, sondern als Machtclique, welche um ihres Standes
willen den unbequemen Querulanten erdrückt. Die Gefahr besteht also darin,
daß die Allmacht des Beamtenthums die besten Absichten des Staates, den
destructiven Tendenzen ihren Vorwand zu nehmen, vereitelt, und daß trotz der
fortschreitenden Entwicklung des öffentlichen Lebens der gefährliche Gedanke bei
den Massen Raum gewinnt, Macht gehe vor Recht. Der Staat ist aber nicht
nur Macht, sondern auch Sittlichkeit, d. h. eine sittliche Macht. Ist er nur
Macht, so bildet sich bald eine andere, nämlich eine destructive Macht, die sich


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[0117] Die destructiven Elemente im Staate. gedankens, welche sich in Preußens Königen und Staatsmännern immer leben¬ diger personificirte, von dem Volke zunächst mit Mißtrauen aufgenommen wurde! Jedes Unrecht, welches vom Staate ausgeht, äußert sich materiell in dem Schaden, den es einzelnen oder ganzen Ländern zufügt, ideal in der Verletzung der Idee des Rechts als einer Wesenheit, die über unsrer Erscheinungswelt steht, und in der Entfesselung der Geister des gekränkten Rechts durch die Selbsthilfe. Die Verzweiflung des sittlichen Willens einer Nation oder eines einzelnen an der Möglichkeit, auf gesetzlichen! Wege Abhilfe gegen das Unrecht zu erhalten, ist der letzte Grund aller wirklichen Revolutionen. Geradezu heraus¬ gefordert werden die destructiven Bestrebungen, wenn der Staat von oben herab das Unrecht schützt und wenn an Stelle des Gemeinsinnes und des Rechts Egoismus und Gewalt treten. Solche Zustände erblicken wir im mittelalterlichen Italien und in den davon heute noch sichtbaren Ueberbleibseln. Ein Staatsregiment, welches von oben bona, nah irrthümliche Maßregeln ergreift und sie durch Beamtenallmacht und Beamtenwillkür in zehnfach verderb¬ licher Wirkung ins Land trägt, zeigt die Regierung Nicolaus' I. in Rußland. Große Irrthümer in Bezug auf die allgemeinen Staatsziele und in Folge dessen Unrecht und Mißtrauen finden wir in Frankreich, England, Spanien. Ueberall spiegeln sich die eigentlichen Fehler der Staatsleitung im Beamtenthum wieder. Endlich werden wir sehen, daß Deutschland im großen und ganzen von Irrthümern und willkürlicher Handhabung der Gewalt weiter entfernt ist als irgend ein andrer Staat. Eine besondere Quelle singulären Unrechts ist die gesetzlose Willkür von Seiten einzelner Beamten, durch welche unter dem Schutze der Gesetze das Recht gebeugt werden kann. Durch die fortwährende Ausbreitung des staat¬ lichen Einflusses in der modernen Zeit sind die Beamten immer zahlreicher ge¬ worden und allmählich große Beamtenheere entstanden. Der moderne Staat bedarf daher mehr denn je gesetzlicher Mittel, um dem einzelnen, welcher be¬ drückt worden ist, die Erfordernisse zu gewähren, gegen ungerechte Beamte auf¬ zutreten. Wird der einzelne, dem Unrecht nach seiner Meinung geschehen ist, nicht geschützt, so fühlt sich das Beamtenthum nicht mehr als Ausfluß der sitt¬ lichen Idee der Staatsgewalt, sondern als Machtclique, welche um ihres Standes willen den unbequemen Querulanten erdrückt. Die Gefahr besteht also darin, daß die Allmacht des Beamtenthums die besten Absichten des Staates, den destructiven Tendenzen ihren Vorwand zu nehmen, vereitelt, und daß trotz der fortschreitenden Entwicklung des öffentlichen Lebens der gefährliche Gedanke bei den Massen Raum gewinnt, Macht gehe vor Recht. Der Staat ist aber nicht nur Macht, sondern auch Sittlichkeit, d. h. eine sittliche Macht. Ist er nur Macht, so bildet sich bald eine andere, nämlich eine destructive Macht, die sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/117>, abgerufen am 29.05.2024.