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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die destructiven Elemente im Staate.

Einer drückt ihm die Pistole gegen die Brust und feuert ab. Bei der Unter¬
suchung hatte kein Mensch die That gesehen oder kannte die Thäter. An einem
andern Orte hängte man dem Polizeichef kurzweg einen Proceß wegen Ver¬
brechens gegen die Sittlichkeit an; es fanden sich 18 Zeugen, welche die Schuld
des Angeklagten vor dem Staatsanwalte beschworen, der letztere mußte ihn in
Untersuchungshaft nehmen. Als er nach sechs Monaten wieder heraus kam,
waren die meineidiger Verleumder und die Spitzbuben, welche er suchte, ver¬
schwunden. Der beste Beamte geht an einer so geschlossenen Organisation des
Verbrechens zu Grunde oder er geräth schließlich auf den Abweg. Er dingt
selbst die Strolche, um ihre Genossen in seine Gewalt zu bekommen. Das ist
oft vorgekommen und hat den Erfolg gehabt, daß die Mafia selbst sich ihrer
mißliebigen oder zu herrschsüchtigen Mitglieder entledigte. Palermo hat in 18
Jahren 67 Präfecten gehabt. Diese Ziffern reden laut genug.

Den ausübenden Truppen gegenüber stehen die Dinge ganz ähnlich; obwohl
die Regierung mit Soldaten operirte, aus deren Unabhängigkeit von den Malan¬
drini sie sich verlassen konnte. Nach unsäglichen Anstrengungen ist man endlich
dahin gelangt, den alten Drachen zu zerstückeln, aber die Theile zucken noch und
besitzen noch Lebenskraft genug, um der Regierung noch lange zu schaffen zu
machen. Es wird einer völligen Umbildung des Volksgeistes bedürfen. Ehe
das Mandat zur Vorführung irgend eines Strolches unterzeichnet wird, ist der
Betroffene in der Regel schon gewarnt: denn auf dem Wege, den das Schrift¬
stück passirt, vielleicht in der Schreibstube des Staatsanwalts, findet es die
Helfershelfer der Spitzbuben. Ueberall derselbe Geist der Abschließung gegen
die Organe des Gesetzes. Die Soldaten müssen über die Berge und durch den
Schnee, um draußen einen Räuber abzufangen, und während dieser Zeit geht
der Mann, von taufenden gekannt und von keinem verrathen, durch die Straßen
von Palermo spazieren. Kommen Gensdarmen in ein Dorf, an einen Meierhof,
so schließen sich ihnen die Thüren, die dem Räuber geöffnet sind; dasselbe Spionir-
system, welches dem Brigcmten seine Opfer anzeigt, achtet auch auf jeden Schritt
der Truppen; ein altes Bäuerlein geht vor ihnen her, wenn sie ausrücken, oder
ein Weib mit einem Kinde; wo sie einrücken sind die Malandrini verschwunden.
Und wenn sie einen fangen, so finden sie keine Zeugnisse, um ihn juristisch be¬
langen zu können. Was am hellen Tage geschieht, will niemand gesehen, nie¬
mand geahnt haben. Hunderte sind aus dem Hinterhalte erschossen worden,
ohne daß man die Thäter jemals zur Strafe gezogen hätte. Nur wenn eine
Bande wirklich gesprengt war, wenn sie hinter Schloß und Riegel ihr Prestige
verloren hatte, dann fanden sich auch in der Regel die Zeugen, welche ihre
Verbrechen bestätigten, aber unter diesen auch wieder solche, welche darauf aus¬
gingen, die Justiz auf einen falschen Weg zu lenken.


Die destructiven Elemente im Staate.

Einer drückt ihm die Pistole gegen die Brust und feuert ab. Bei der Unter¬
suchung hatte kein Mensch die That gesehen oder kannte die Thäter. An einem
andern Orte hängte man dem Polizeichef kurzweg einen Proceß wegen Ver¬
brechens gegen die Sittlichkeit an; es fanden sich 18 Zeugen, welche die Schuld
des Angeklagten vor dem Staatsanwalte beschworen, der letztere mußte ihn in
Untersuchungshaft nehmen. Als er nach sechs Monaten wieder heraus kam,
waren die meineidiger Verleumder und die Spitzbuben, welche er suchte, ver¬
schwunden. Der beste Beamte geht an einer so geschlossenen Organisation des
Verbrechens zu Grunde oder er geräth schließlich auf den Abweg. Er dingt
selbst die Strolche, um ihre Genossen in seine Gewalt zu bekommen. Das ist
oft vorgekommen und hat den Erfolg gehabt, daß die Mafia selbst sich ihrer
mißliebigen oder zu herrschsüchtigen Mitglieder entledigte. Palermo hat in 18
Jahren 67 Präfecten gehabt. Diese Ziffern reden laut genug.

Den ausübenden Truppen gegenüber stehen die Dinge ganz ähnlich; obwohl
die Regierung mit Soldaten operirte, aus deren Unabhängigkeit von den Malan¬
drini sie sich verlassen konnte. Nach unsäglichen Anstrengungen ist man endlich
dahin gelangt, den alten Drachen zu zerstückeln, aber die Theile zucken noch und
besitzen noch Lebenskraft genug, um der Regierung noch lange zu schaffen zu
machen. Es wird einer völligen Umbildung des Volksgeistes bedürfen. Ehe
das Mandat zur Vorführung irgend eines Strolches unterzeichnet wird, ist der
Betroffene in der Regel schon gewarnt: denn auf dem Wege, den das Schrift¬
stück passirt, vielleicht in der Schreibstube des Staatsanwalts, findet es die
Helfershelfer der Spitzbuben. Ueberall derselbe Geist der Abschließung gegen
die Organe des Gesetzes. Die Soldaten müssen über die Berge und durch den
Schnee, um draußen einen Räuber abzufangen, und während dieser Zeit geht
der Mann, von taufenden gekannt und von keinem verrathen, durch die Straßen
von Palermo spazieren. Kommen Gensdarmen in ein Dorf, an einen Meierhof,
so schließen sich ihnen die Thüren, die dem Räuber geöffnet sind; dasselbe Spionir-
system, welches dem Brigcmten seine Opfer anzeigt, achtet auch auf jeden Schritt
der Truppen; ein altes Bäuerlein geht vor ihnen her, wenn sie ausrücken, oder
ein Weib mit einem Kinde; wo sie einrücken sind die Malandrini verschwunden.
Und wenn sie einen fangen, so finden sie keine Zeugnisse, um ihn juristisch be¬
langen zu können. Was am hellen Tage geschieht, will niemand gesehen, nie¬
mand geahnt haben. Hunderte sind aus dem Hinterhalte erschossen worden,
ohne daß man die Thäter jemals zur Strafe gezogen hätte. Nur wenn eine
Bande wirklich gesprengt war, wenn sie hinter Schloß und Riegel ihr Prestige
verloren hatte, dann fanden sich auch in der Regel die Zeugen, welche ihre
Verbrechen bestätigten, aber unter diesen auch wieder solche, welche darauf aus¬
gingen, die Justiz auf einen falschen Weg zu lenken.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/124>, abgerufen am 29.05.2024.