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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Die Reformationen in der christlichen Welt,

mung herrsche und die wirklich gebildeten sich gründlich und ganz von den
alten Quellen ihres innersten und besten Lebens abgekehrt haben, liegen von
außertheologischen Kreisen in Menge vor. Daß aber vollends die theologische
und biblische Wissenschaft in der Auslegung und in der Glaubens- und Sitten¬
lehre, theilweise selbst die erbauliche Literatur, vor allem auf deutschem Boden,
aber auch auf englischem (Kingsley), in einer großen Zahl umfassender und
tiefgründiger Schriftwerke unsers Jahrhunderts Glaube und Wissen zu ver¬
mitteln und unter Festhaltung der Grundwahrheiten des Christenthums alleu
Ansprüchen des Denkens zu genügen bemüht ist, weiß jeder Sachkundige.

Sollten wir angesichts dieser Thatsachen nicht mit vollem Rechte behaupten
dürfen, daß die im 16. Jahrhundert begonnene, aber unterbrochene Reformation
in unsern Tagen mit allen Kräften wieder aufgenommen, rüstig fortgesetzt und
einem erwünschten Abschlüsse näher gebracht sei? Ja, die Gegenwart darf mit
aller Zuversicht von einer werdenden Wiedergeburt der evangelischen Kirche
reden. Dies schon deshalb, weil die einander entgegengesetzten Parteien der¬
selben sichtlich und mit Erfolg auf gegenseitige Verständigung hinarbeiten und
sich durchweg, wo mit ehrlichen Waffen gekämpft wird, als ebenbürtige Gegner,
ja als Streiter für dieselbe Sache anerkennen. Darin aber in der That eine
im Werden begriffene Reformation zu erkennen, ist man vor allem darum be¬
rechtigt, weil gerade die zwei genannten sich entgegenstehenden Elemente, das
negirende und das ponirende, der Pietismus und der Rationalismus es sind,
welche in den Bestrebungen und Leistungen unsrer Wissenschaft wie unsrer
Kirche in Einklang zu kommen, einander die Hände zu reichen sich anschicken.

Es konnte freilich scheinen, gerade die allerneueste Zeit berechtige weit
weniger als etwa die vor fünfzig Jahren zu solcher hoffnungsvollen Zuver¬
sicht; damals sei eine Friedensstimmung und Friedensstimme der Art eher am
Platze gewesen als in diesen Tagen des Syllabus, der Encyclika und des
Vaticanums, der Wunder von Lourdes und Marpingen auf der eiuen und
der letzten Berliner Generalsynode auf der andern Seite. Da und dort ist ja
auf die bereits schön aufblühende Saat der werdenden Reformation ein böser
Frühlingsfrost gefallen. Die Geister eines Salier, Wessenberg und Boos, ja
selbst noch eines Fr. L. Stolberg hatten im katholischen, die frühere Berliner
Generalsynode im evangelischen Lager die besten Hoffnungen erweckt, dazumal
durfte man eine auf festem urwüchsigen Grunde sich aufbauende katholische,
eine hinter die Glaubensbekenntnisse aller Confessionen zurückgehende evangelische,
ja selbst eine allgemeine deutsche Nationalkirche in Aussicht nehmen. Jetzt da¬
gegen scheint wie der römische so der papierne Papst wieder in voller Macht¬
fülle auf den Thron gesetzt zu sein. Auch ist fehr bedauerlich, wie in unsern
Tagen die Ultras rechts und links oftmals die dargebotene Vermittlung schnöde


Grenzboten I. 1831. 20
Die Reformationen in der christlichen Welt,

mung herrsche und die wirklich gebildeten sich gründlich und ganz von den
alten Quellen ihres innersten und besten Lebens abgekehrt haben, liegen von
außertheologischen Kreisen in Menge vor. Daß aber vollends die theologische
und biblische Wissenschaft in der Auslegung und in der Glaubens- und Sitten¬
lehre, theilweise selbst die erbauliche Literatur, vor allem auf deutschem Boden,
aber auch auf englischem (Kingsley), in einer großen Zahl umfassender und
tiefgründiger Schriftwerke unsers Jahrhunderts Glaube und Wissen zu ver¬
mitteln und unter Festhaltung der Grundwahrheiten des Christenthums alleu
Ansprüchen des Denkens zu genügen bemüht ist, weiß jeder Sachkundige.

Sollten wir angesichts dieser Thatsachen nicht mit vollem Rechte behaupten
dürfen, daß die im 16. Jahrhundert begonnene, aber unterbrochene Reformation
in unsern Tagen mit allen Kräften wieder aufgenommen, rüstig fortgesetzt und
einem erwünschten Abschlüsse näher gebracht sei? Ja, die Gegenwart darf mit
aller Zuversicht von einer werdenden Wiedergeburt der evangelischen Kirche
reden. Dies schon deshalb, weil die einander entgegengesetzten Parteien der¬
selben sichtlich und mit Erfolg auf gegenseitige Verständigung hinarbeiten und
sich durchweg, wo mit ehrlichen Waffen gekämpft wird, als ebenbürtige Gegner,
ja als Streiter für dieselbe Sache anerkennen. Darin aber in der That eine
im Werden begriffene Reformation zu erkennen, ist man vor allem darum be¬
rechtigt, weil gerade die zwei genannten sich entgegenstehenden Elemente, das
negirende und das ponirende, der Pietismus und der Rationalismus es sind,
welche in den Bestrebungen und Leistungen unsrer Wissenschaft wie unsrer
Kirche in Einklang zu kommen, einander die Hände zu reichen sich anschicken.

Es konnte freilich scheinen, gerade die allerneueste Zeit berechtige weit
weniger als etwa die vor fünfzig Jahren zu solcher hoffnungsvollen Zuver¬
sicht; damals sei eine Friedensstimmung und Friedensstimme der Art eher am
Platze gewesen als in diesen Tagen des Syllabus, der Encyclika und des
Vaticanums, der Wunder von Lourdes und Marpingen auf der eiuen und
der letzten Berliner Generalsynode auf der andern Seite. Da und dort ist ja
auf die bereits schön aufblühende Saat der werdenden Reformation ein böser
Frühlingsfrost gefallen. Die Geister eines Salier, Wessenberg und Boos, ja
selbst noch eines Fr. L. Stolberg hatten im katholischen, die frühere Berliner
Generalsynode im evangelischen Lager die besten Hoffnungen erweckt, dazumal
durfte man eine auf festem urwüchsigen Grunde sich aufbauende katholische,
eine hinter die Glaubensbekenntnisse aller Confessionen zurückgehende evangelische,
ja selbst eine allgemeine deutsche Nationalkirche in Aussicht nehmen. Jetzt da¬
gegen scheint wie der römische so der papierne Papst wieder in voller Macht¬
fülle auf den Thron gesetzt zu sein. Auch ist fehr bedauerlich, wie in unsern
Tagen die Ultras rechts und links oftmals die dargebotene Vermittlung schnöde


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[0153] Die Reformationen in der christlichen Welt, mung herrsche und die wirklich gebildeten sich gründlich und ganz von den alten Quellen ihres innersten und besten Lebens abgekehrt haben, liegen von außertheologischen Kreisen in Menge vor. Daß aber vollends die theologische und biblische Wissenschaft in der Auslegung und in der Glaubens- und Sitten¬ lehre, theilweise selbst die erbauliche Literatur, vor allem auf deutschem Boden, aber auch auf englischem (Kingsley), in einer großen Zahl umfassender und tiefgründiger Schriftwerke unsers Jahrhunderts Glaube und Wissen zu ver¬ mitteln und unter Festhaltung der Grundwahrheiten des Christenthums alleu Ansprüchen des Denkens zu genügen bemüht ist, weiß jeder Sachkundige. Sollten wir angesichts dieser Thatsachen nicht mit vollem Rechte behaupten dürfen, daß die im 16. Jahrhundert begonnene, aber unterbrochene Reformation in unsern Tagen mit allen Kräften wieder aufgenommen, rüstig fortgesetzt und einem erwünschten Abschlüsse näher gebracht sei? Ja, die Gegenwart darf mit aller Zuversicht von einer werdenden Wiedergeburt der evangelischen Kirche reden. Dies schon deshalb, weil die einander entgegengesetzten Parteien der¬ selben sichtlich und mit Erfolg auf gegenseitige Verständigung hinarbeiten und sich durchweg, wo mit ehrlichen Waffen gekämpft wird, als ebenbürtige Gegner, ja als Streiter für dieselbe Sache anerkennen. Darin aber in der That eine im Werden begriffene Reformation zu erkennen, ist man vor allem darum be¬ rechtigt, weil gerade die zwei genannten sich entgegenstehenden Elemente, das negirende und das ponirende, der Pietismus und der Rationalismus es sind, welche in den Bestrebungen und Leistungen unsrer Wissenschaft wie unsrer Kirche in Einklang zu kommen, einander die Hände zu reichen sich anschicken. Es konnte freilich scheinen, gerade die allerneueste Zeit berechtige weit weniger als etwa die vor fünfzig Jahren zu solcher hoffnungsvollen Zuver¬ sicht; damals sei eine Friedensstimmung und Friedensstimme der Art eher am Platze gewesen als in diesen Tagen des Syllabus, der Encyclika und des Vaticanums, der Wunder von Lourdes und Marpingen auf der eiuen und der letzten Berliner Generalsynode auf der andern Seite. Da und dort ist ja auf die bereits schön aufblühende Saat der werdenden Reformation ein böser Frühlingsfrost gefallen. Die Geister eines Salier, Wessenberg und Boos, ja selbst noch eines Fr. L. Stolberg hatten im katholischen, die frühere Berliner Generalsynode im evangelischen Lager die besten Hoffnungen erweckt, dazumal durfte man eine auf festem urwüchsigen Grunde sich aufbauende katholische, eine hinter die Glaubensbekenntnisse aller Confessionen zurückgehende evangelische, ja selbst eine allgemeine deutsche Nationalkirche in Aussicht nehmen. Jetzt da¬ gegen scheint wie der römische so der papierne Papst wieder in voller Macht¬ fülle auf den Thron gesetzt zu sein. Auch ist fehr bedauerlich, wie in unsern Tagen die Ultras rechts und links oftmals die dargebotene Vermittlung schnöde Grenzboten I. 1831. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/153>, abgerufen am 05.06.2024.