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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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"Sollen Treu und Redlichkeit unter zwei Nationen herrschen, so müssen
beide gleichviel dazu beitragen/' So rief der zwanzigjährige Lessing den
Christen seines Zeitalters zu. Und es sollte seinem Geiste widersprechen, wenn
den Juden von heute dieselben Worte mahnend ins Gedächtniß zurückgerufen
werden? Ich wage zu behaupte", daß diejenigen Männer, welche sich der Nation
gegenüber ohne Noth zu Hütern seines Vermächtnisses aufgeworfen haben, dem
wahren Sinne eben dieses seines Vermächtnisses weit weniger nahe kommen als
ihre Gegner. Das "beide gleichviel" setzte Lessing nie aus den Auge", und im
Kampfe zweier Parteien hat ihn keine jemals unbedingt auf ihrer Seite gesehen.
Seinen Freunden blieb es unvergessen, wie er während des siebenjährigen Krieges
in Sachsen immer die Sache der Preußen und in Berlin die der Sachsen vertrat.

Es war nicht die bloße Freude an siegreicher Debatte oder am Widerspruch,
wie seine Freunde meinten, die solchem Thun zu Grunde lag; nein, ein viel
tieferer und edlerer Zug des Lessingschen Geistes kam hier zur Geltung: der
klare und vorurtheilslvsc Sinn, der freie Blick, welcher aus den Schlagworten
streitender Gegner immer den berechtigten Kern des Grundgedankens von der
zufälligen Umhüllung des Parteistandpunktes abzulösen wußte und daher keinem
Recht geben konnte, weil er jedem Recht gab.

In dieser Geistesrichtung sollten wir das bleibende Vermächtnis; Lessings
sehen, nicht in einem bestimmten Progamm. Denn Programme veralten, und
die Anschauungsformen im geistigen.Leben der Völker wandeln sich. Das nbstraete
Humnnitütsideal, die reinste Blüthe des Lessingschen Geistes und der Epoche
der Aufklärung, ist in seinem vollen Umfange hente schon nicht mehr giltig.
Aber eins veraltet nie: das intellectuelle wie das ethische Grundprincip dieses
herrlichen Charaktes, das unablässige Streben uach Wahrheit und ausgleichender
Gerechtigkeit.

Vergessen wir darum, wenn wir von Lessings Vermächtnis; reden, nie des
goldenen Wortes, welches er uns hinterlassen: "Jeder sage, was ihm Wahrheit
dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen" -- und auch des andern
nicht: "Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Ueberzeugung in
guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich
mehr werth als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit ans Vorurtheil
mit Vcrschreiung seiner Gegner auf alltägliche Weise vertheidigt." In solchen
Worten hat Lessing sein Vermächtnis; niedergelegt. Wenn nur redlich streben
es uns zu eigen zu mache", so können wir hoffen die Feier seines Todestages
in seinem Geiste zu begehe". Fern sei von diesem Tage das gleich vergebliche
wie gefährliche Bemühen, den großen Mann in die Fesseln eigner beschränkter
Parteimeinnng zu legen. Hinausgehoben vielmehr über das Gewoge noch un-


„Sollen Treu und Redlichkeit unter zwei Nationen herrschen, so müssen
beide gleichviel dazu beitragen/' So rief der zwanzigjährige Lessing den
Christen seines Zeitalters zu. Und es sollte seinem Geiste widersprechen, wenn
den Juden von heute dieselben Worte mahnend ins Gedächtniß zurückgerufen
werden? Ich wage zu behaupte«, daß diejenigen Männer, welche sich der Nation
gegenüber ohne Noth zu Hütern seines Vermächtnisses aufgeworfen haben, dem
wahren Sinne eben dieses seines Vermächtnisses weit weniger nahe kommen als
ihre Gegner. Das „beide gleichviel" setzte Lessing nie aus den Auge», und im
Kampfe zweier Parteien hat ihn keine jemals unbedingt auf ihrer Seite gesehen.
Seinen Freunden blieb es unvergessen, wie er während des siebenjährigen Krieges
in Sachsen immer die Sache der Preußen und in Berlin die der Sachsen vertrat.

Es war nicht die bloße Freude an siegreicher Debatte oder am Widerspruch,
wie seine Freunde meinten, die solchem Thun zu Grunde lag; nein, ein viel
tieferer und edlerer Zug des Lessingschen Geistes kam hier zur Geltung: der
klare und vorurtheilslvsc Sinn, der freie Blick, welcher aus den Schlagworten
streitender Gegner immer den berechtigten Kern des Grundgedankens von der
zufälligen Umhüllung des Parteistandpunktes abzulösen wußte und daher keinem
Recht geben konnte, weil er jedem Recht gab.

In dieser Geistesrichtung sollten wir das bleibende Vermächtnis; Lessings
sehen, nicht in einem bestimmten Progamm. Denn Programme veralten, und
die Anschauungsformen im geistigen.Leben der Völker wandeln sich. Das nbstraete
Humnnitütsideal, die reinste Blüthe des Lessingschen Geistes und der Epoche
der Aufklärung, ist in seinem vollen Umfange hente schon nicht mehr giltig.
Aber eins veraltet nie: das intellectuelle wie das ethische Grundprincip dieses
herrlichen Charaktes, das unablässige Streben uach Wahrheit und ausgleichender
Gerechtigkeit.

Vergessen wir darum, wenn wir von Lessings Vermächtnis; reden, nie des
goldenen Wortes, welches er uns hinterlassen: „Jeder sage, was ihm Wahrheit
dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen" — und auch des andern
nicht: „Ein Mann, der Unwahrheit unter entgegengesetzter Ueberzeugung in
guter Absicht ebenso scharfsinnig als bescheiden durchzusetzen sucht, ist unendlich
mehr werth als ein Mann, der die beste, edelste Wahrheit ans Vorurtheil
mit Vcrschreiung seiner Gegner auf alltägliche Weise vertheidigt." In solchen
Worten hat Lessing sein Vermächtnis; niedergelegt. Wenn nur redlich streben
es uns zu eigen zu mache», so können wir hoffen die Feier seines Todestages
in seinem Geiste zu begehe». Fern sei von diesem Tage das gleich vergebliche
wie gefährliche Bemühen, den großen Mann in die Fesseln eigner beschränkter
Parteimeinnng zu legen. Hinausgehoben vielmehr über das Gewoge noch un-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/242>, abgerufen am 14.05.2024.