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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Der Parlamenten'ismns in England.

form. Wenn mich Interessen mitwirken, so ist doch auf allen Seiten Ernst der
Ueberzeugung zu bemerken. Diese Parteien kommen ans den Versammlungen
der Abgeordneten ins Volk, schleifen sich dort wenigstens scharf. Zwischen feind¬
lichen Principien ist keine Verständigung möglich. Die Debatte hat selten Ein¬
fluß ans das schließliche Ergebniß, und "das SubtmctionSexempel, welches an¬
geblich den Willen des Volks ausdrückt, wäre vorher auszurechnen." Zu solcher
Schärfe hat sich der Gegensatz Mischen liberal und conservativ in England
nicht entwickelt. Bis in die neueste Zeit wußten bestimmte Familien, daß die
Regierung successive zwischen ihnen getheilt war. Sie bedurften der Trennung
in zwei Parteien und richteten sich dieselbe comfortabel ein. Ein "Einpeitscher"
führt die Liste der Parteimitglieder, bewacht den Gang der Debatte, treibt jene
ins Haus, wirbt uuter den Wilden, vertheilt und verspricht Aemter zur Be¬
lohnung für gutes Verhalten. "Seine Peitsche thut, was auf dem Festlande
das Princip wirkt, hält die Partei zusammen und bringt die Mitglieder zu der
Selbstverleugnung, dem Führer, von dem sie die Parole erhalten, durch dick
und dünn zu folgen." Ein schönes Beispiel davon findet sich bei Bücher S. 119.

Die erste Partei, die neben den Whigs und Tones auftrat, waren die
Radicalen. Der Ausdruck soll 1798 zuerst vou Pitt gebraucht worden sein,
und zwar meinte er damit die Opposition, die eine radicale Reform des Parla¬
ments verlangte, und unter der sich Peers und Herzöge befanden. Später ver¬
stand man uuter radical etwas anderes. Die aristokratischen Enthusiasten kühlten
sich ab, die Whigs wollten ans der Bewegung wie gewöhnlich ein Geschäftchen
machen: die Mittelklassen und die Massen erwarteten von der parlamentarischen
Opposition so wenig wie von radicaler Veränderung der Staatsform Abhilfe
ihrer Beschwerden. 1897 brachten die Wahlen eine Anzahl von Männern ins
Parlament, die sich von den Whigs wie von den Tones fernhielten, aber Ber-
bessernngcn mit den Mitteln der Verfassung wollten. Aus den Verbesserungen
wurde nicht viel, aber die neue Partei blieb bestehen. Das Unterhaus sah auch
ferner neben den alten Parteien eine dritte, die "Unabhängigen" oder die "Radi¬
calen." Die Whigs und die Tories betrachteten die englische Verfassung als
eine Reihe vou Compromissen. Die, welche sich in der neuen Partei zusammen¬
fanden, waren eine bunte Gesellschaft von Leuten, von welchen jeder ein Princip
oder Steckenpferd hatte, das ihn am Eingehen von Kompromissen hinderte. Ein
Radicaler war der Major Cartwrigth, der allgemeines Stimmrecht nach Ver¬
nunft, Bibel und dein alten gemeinen Rechte wollte, und dessen Epigonen die
Chartisten waren. Andere Richtungen, die ihr Contingent zu den Radicalen
lieferten, sind durch Ventham und Nieardo bezeichnet. Ventham, der Philosoph
des Niesens, bekämpfte das historische Recht, das Recht, wie es der Juristen-


Der Parlamenten'ismns in England.

form. Wenn mich Interessen mitwirken, so ist doch auf allen Seiten Ernst der
Ueberzeugung zu bemerken. Diese Parteien kommen ans den Versammlungen
der Abgeordneten ins Volk, schleifen sich dort wenigstens scharf. Zwischen feind¬
lichen Principien ist keine Verständigung möglich. Die Debatte hat selten Ein¬
fluß ans das schließliche Ergebniß, und „das SubtmctionSexempel, welches an¬
geblich den Willen des Volks ausdrückt, wäre vorher auszurechnen." Zu solcher
Schärfe hat sich der Gegensatz Mischen liberal und conservativ in England
nicht entwickelt. Bis in die neueste Zeit wußten bestimmte Familien, daß die
Regierung successive zwischen ihnen getheilt war. Sie bedurften der Trennung
in zwei Parteien und richteten sich dieselbe comfortabel ein. Ein „Einpeitscher"
führt die Liste der Parteimitglieder, bewacht den Gang der Debatte, treibt jene
ins Haus, wirbt uuter den Wilden, vertheilt und verspricht Aemter zur Be¬
lohnung für gutes Verhalten. „Seine Peitsche thut, was auf dem Festlande
das Princip wirkt, hält die Partei zusammen und bringt die Mitglieder zu der
Selbstverleugnung, dem Führer, von dem sie die Parole erhalten, durch dick
und dünn zu folgen." Ein schönes Beispiel davon findet sich bei Bücher S. 119.

Die erste Partei, die neben den Whigs und Tones auftrat, waren die
Radicalen. Der Ausdruck soll 1798 zuerst vou Pitt gebraucht worden sein,
und zwar meinte er damit die Opposition, die eine radicale Reform des Parla¬
ments verlangte, und unter der sich Peers und Herzöge befanden. Später ver¬
stand man uuter radical etwas anderes. Die aristokratischen Enthusiasten kühlten
sich ab, die Whigs wollten ans der Bewegung wie gewöhnlich ein Geschäftchen
machen: die Mittelklassen und die Massen erwarteten von der parlamentarischen
Opposition so wenig wie von radicaler Veränderung der Staatsform Abhilfe
ihrer Beschwerden. 1897 brachten die Wahlen eine Anzahl von Männern ins
Parlament, die sich von den Whigs wie von den Tones fernhielten, aber Ber-
bessernngcn mit den Mitteln der Verfassung wollten. Aus den Verbesserungen
wurde nicht viel, aber die neue Partei blieb bestehen. Das Unterhaus sah auch
ferner neben den alten Parteien eine dritte, die „Unabhängigen" oder die „Radi¬
calen." Die Whigs und die Tories betrachteten die englische Verfassung als
eine Reihe vou Compromissen. Die, welche sich in der neuen Partei zusammen¬
fanden, waren eine bunte Gesellschaft von Leuten, von welchen jeder ein Princip
oder Steckenpferd hatte, das ihn am Eingehen von Kompromissen hinderte. Ein
Radicaler war der Major Cartwrigth, der allgemeines Stimmrecht nach Ver¬
nunft, Bibel und dein alten gemeinen Rechte wollte, und dessen Epigonen die
Chartisten waren. Andere Richtungen, die ihr Contingent zu den Radicalen
lieferten, sind durch Ventham und Nieardo bezeichnet. Ventham, der Philosoph
des Niesens, bekämpfte das historische Recht, das Recht, wie es der Juristen-


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[0271] Der Parlamenten'ismns in England. form. Wenn mich Interessen mitwirken, so ist doch auf allen Seiten Ernst der Ueberzeugung zu bemerken. Diese Parteien kommen ans den Versammlungen der Abgeordneten ins Volk, schleifen sich dort wenigstens scharf. Zwischen feind¬ lichen Principien ist keine Verständigung möglich. Die Debatte hat selten Ein¬ fluß ans das schließliche Ergebniß, und „das SubtmctionSexempel, welches an¬ geblich den Willen des Volks ausdrückt, wäre vorher auszurechnen." Zu solcher Schärfe hat sich der Gegensatz Mischen liberal und conservativ in England nicht entwickelt. Bis in die neueste Zeit wußten bestimmte Familien, daß die Regierung successive zwischen ihnen getheilt war. Sie bedurften der Trennung in zwei Parteien und richteten sich dieselbe comfortabel ein. Ein „Einpeitscher" führt die Liste der Parteimitglieder, bewacht den Gang der Debatte, treibt jene ins Haus, wirbt uuter den Wilden, vertheilt und verspricht Aemter zur Be¬ lohnung für gutes Verhalten. „Seine Peitsche thut, was auf dem Festlande das Princip wirkt, hält die Partei zusammen und bringt die Mitglieder zu der Selbstverleugnung, dem Führer, von dem sie die Parole erhalten, durch dick und dünn zu folgen." Ein schönes Beispiel davon findet sich bei Bücher S. 119. Die erste Partei, die neben den Whigs und Tones auftrat, waren die Radicalen. Der Ausdruck soll 1798 zuerst vou Pitt gebraucht worden sein, und zwar meinte er damit die Opposition, die eine radicale Reform des Parla¬ ments verlangte, und unter der sich Peers und Herzöge befanden. Später ver¬ stand man uuter radical etwas anderes. Die aristokratischen Enthusiasten kühlten sich ab, die Whigs wollten ans der Bewegung wie gewöhnlich ein Geschäftchen machen: die Mittelklassen und die Massen erwarteten von der parlamentarischen Opposition so wenig wie von radicaler Veränderung der Staatsform Abhilfe ihrer Beschwerden. 1897 brachten die Wahlen eine Anzahl von Männern ins Parlament, die sich von den Whigs wie von den Tones fernhielten, aber Ber- bessernngcn mit den Mitteln der Verfassung wollten. Aus den Verbesserungen wurde nicht viel, aber die neue Partei blieb bestehen. Das Unterhaus sah auch ferner neben den alten Parteien eine dritte, die „Unabhängigen" oder die „Radi¬ calen." Die Whigs und die Tories betrachteten die englische Verfassung als eine Reihe vou Compromissen. Die, welche sich in der neuen Partei zusammen¬ fanden, waren eine bunte Gesellschaft von Leuten, von welchen jeder ein Princip oder Steckenpferd hatte, das ihn am Eingehen von Kompromissen hinderte. Ein Radicaler war der Major Cartwrigth, der allgemeines Stimmrecht nach Ver¬ nunft, Bibel und dein alten gemeinen Rechte wollte, und dessen Epigonen die Chartisten waren. Andere Richtungen, die ihr Contingent zu den Radicalen lieferten, sind durch Ventham und Nieardo bezeichnet. Ventham, der Philosoph des Niesens, bekämpfte das historische Recht, das Recht, wie es der Juristen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/271>, abgerufen am 17.06.2024.