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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal.

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Ein Mittel gab es, und zwar ein sehr drastisches, diesem Uebelstande von
Grund aus abzuhelfen, ein Mittel, welchem selbst die größten Dramatiker, Shake¬
speare nicht ausgeschlossen, nicht überall entsagt haben: dort nämlich, wo die
tiefere Motivirung der Charaktere nicht auszureichen schien, das Publicum durch
einige erläuternde Worte, passend oder unpassend dieser oder jener Person in
den Mund gelegt, über die Absichten des Dichters aufzuklären. Lessing ver¬
schmähte einen solchen ärmlichen Nothbehelf, wie er sich insbesondere auf der
classischen Bühne der Franzosen als unumgänglicher Bestandtheil dramatischer
Technik Bürgerrecht erworben hatte. Er ist gegen diese Plattheit mit vollem
Nachdruck in der Dramaturgie aufgetreten. Gerade in diesem Punkte fand er
die englische Bühne auf einer viel höhern Stufe. "Sie spricht nie als eine
Verliebte, aber sie handelt so" sagt er einmal von der Elisabeth im "Essex" des
Banks. Und mit einem tadelnden Seitenblick auf Thomas Corneille: "Seine Elisa¬
beth klagt nicht, wie die Elisabeth des Corneille über Kälte und Verachtung, über
Gluth und Schicksal. Keine von diesen Armseligkeiten kömmt über ihre Lippen.
Man hört es nie, aber man sieht es, wie theuer ihr Essex ehedem gewesen und
uoch ist" (Dramaturgie 57. Stück). Diese Worte lassen sich ohne wesentliche
Einschränkung auf das Verhältniß Emilias zum Prinzen übertragen. Gerade
im Gegensatz zu der kahlen Schablone der Franzosen, bei denen jede Person
dem Zuschauer mit blanken Worten deutlich macht, was er von ihr zu halten
habe, war es offenbar Lessings ganz bewußte Absicht, ein Stück zu schaffen, in
dem kein Wort gesprochen würde, welches nicht in den Charakteren begründet,
uicht durch die Situationen gefordert wäre. Auch von seiner Emilia sollte es
heißen: Man Hort es nie, aber man sieht es, welch eine bestrickende Gewalt
der Prinz auf sie ausübt, sie spricht nie als unter dem Zauber seiner Persön¬
lichkeit stehend, aber sie handelt so.

Der Erfolg hat gezeigt, daß Lessing über dem Bestreben eine absolute Wahr¬
heit in der Charakteristik zu erlangen, häufig die Deutlichkeit und Verständlich-
keit der Darstellung eingebüßt hat. Es ist leicht einzusehen, was diesen Umstand
befördert hat. Der Stoff, wie ihn die römische Erzählung in ihren Grundzügen
bot und wie ihn dann Lessing auf modernem Boden frei verarbeitete, verlangte
eine Construction, welche -- um mit Gustav Freytag (a. a. O., S. 96) zu reden --
im Gegenspiel aufsteigt. Die Heldin konnte der Natur der Sache nach nicht
der "hervorstechendste," d. h. der thätigste Charakter des Stückes sein, sie konnte
nnr eine passive Rolle spielen. Die Leitung der Handlung fiel damit dem Gegen¬
spiel, dem Prinzen und Marinelli zu, dem Dichter aber blieb nur wenig Ge¬
legenheit, den Charakter Emilias und die ihr selbst verborgnen Tiefen ihrer Leiden¬
schaft zu einer Deutlichkeit zu entfalten, die jedes Mißverständniß von vornherein


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Ein Mittel gab es, und zwar ein sehr drastisches, diesem Uebelstande von
Grund aus abzuhelfen, ein Mittel, welchem selbst die größten Dramatiker, Shake¬
speare nicht ausgeschlossen, nicht überall entsagt haben: dort nämlich, wo die
tiefere Motivirung der Charaktere nicht auszureichen schien, das Publicum durch
einige erläuternde Worte, passend oder unpassend dieser oder jener Person in
den Mund gelegt, über die Absichten des Dichters aufzuklären. Lessing ver¬
schmähte einen solchen ärmlichen Nothbehelf, wie er sich insbesondere auf der
classischen Bühne der Franzosen als unumgänglicher Bestandtheil dramatischer
Technik Bürgerrecht erworben hatte. Er ist gegen diese Plattheit mit vollem
Nachdruck in der Dramaturgie aufgetreten. Gerade in diesem Punkte fand er
die englische Bühne auf einer viel höhern Stufe. „Sie spricht nie als eine
Verliebte, aber sie handelt so" sagt er einmal von der Elisabeth im „Essex" des
Banks. Und mit einem tadelnden Seitenblick auf Thomas Corneille: „Seine Elisa¬
beth klagt nicht, wie die Elisabeth des Corneille über Kälte und Verachtung, über
Gluth und Schicksal. Keine von diesen Armseligkeiten kömmt über ihre Lippen.
Man hört es nie, aber man sieht es, wie theuer ihr Essex ehedem gewesen und
uoch ist" (Dramaturgie 57. Stück). Diese Worte lassen sich ohne wesentliche
Einschränkung auf das Verhältniß Emilias zum Prinzen übertragen. Gerade
im Gegensatz zu der kahlen Schablone der Franzosen, bei denen jede Person
dem Zuschauer mit blanken Worten deutlich macht, was er von ihr zu halten
habe, war es offenbar Lessings ganz bewußte Absicht, ein Stück zu schaffen, in
dem kein Wort gesprochen würde, welches nicht in den Charakteren begründet,
uicht durch die Situationen gefordert wäre. Auch von seiner Emilia sollte es
heißen: Man Hort es nie, aber man sieht es, welch eine bestrickende Gewalt
der Prinz auf sie ausübt, sie spricht nie als unter dem Zauber seiner Persön¬
lichkeit stehend, aber sie handelt so.

Der Erfolg hat gezeigt, daß Lessing über dem Bestreben eine absolute Wahr¬
heit in der Charakteristik zu erlangen, häufig die Deutlichkeit und Verständlich-
keit der Darstellung eingebüßt hat. Es ist leicht einzusehen, was diesen Umstand
befördert hat. Der Stoff, wie ihn die römische Erzählung in ihren Grundzügen
bot und wie ihn dann Lessing auf modernem Boden frei verarbeitete, verlangte
eine Construction, welche — um mit Gustav Freytag (a. a. O., S. 96) zu reden —
im Gegenspiel aufsteigt. Die Heldin konnte der Natur der Sache nach nicht
der „hervorstechendste," d. h. der thätigste Charakter des Stückes sein, sie konnte
nnr eine passive Rolle spielen. Die Leitung der Handlung fiel damit dem Gegen¬
spiel, dem Prinzen und Marinelli zu, dem Dichter aber blieb nur wenig Ge¬
legenheit, den Charakter Emilias und die ihr selbst verborgnen Tiefen ihrer Leiden¬
schaft zu einer Deutlichkeit zu entfalten, die jedes Mißverständniß von vornherein


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[0354] Li-ssmgstudlon, Ein Mittel gab es, und zwar ein sehr drastisches, diesem Uebelstande von Grund aus abzuhelfen, ein Mittel, welchem selbst die größten Dramatiker, Shake¬ speare nicht ausgeschlossen, nicht überall entsagt haben: dort nämlich, wo die tiefere Motivirung der Charaktere nicht auszureichen schien, das Publicum durch einige erläuternde Worte, passend oder unpassend dieser oder jener Person in den Mund gelegt, über die Absichten des Dichters aufzuklären. Lessing ver¬ schmähte einen solchen ärmlichen Nothbehelf, wie er sich insbesondere auf der classischen Bühne der Franzosen als unumgänglicher Bestandtheil dramatischer Technik Bürgerrecht erworben hatte. Er ist gegen diese Plattheit mit vollem Nachdruck in der Dramaturgie aufgetreten. Gerade in diesem Punkte fand er die englische Bühne auf einer viel höhern Stufe. „Sie spricht nie als eine Verliebte, aber sie handelt so" sagt er einmal von der Elisabeth im „Essex" des Banks. Und mit einem tadelnden Seitenblick auf Thomas Corneille: „Seine Elisa¬ beth klagt nicht, wie die Elisabeth des Corneille über Kälte und Verachtung, über Gluth und Schicksal. Keine von diesen Armseligkeiten kömmt über ihre Lippen. Man hört es nie, aber man sieht es, wie theuer ihr Essex ehedem gewesen und uoch ist" (Dramaturgie 57. Stück). Diese Worte lassen sich ohne wesentliche Einschränkung auf das Verhältniß Emilias zum Prinzen übertragen. Gerade im Gegensatz zu der kahlen Schablone der Franzosen, bei denen jede Person dem Zuschauer mit blanken Worten deutlich macht, was er von ihr zu halten habe, war es offenbar Lessings ganz bewußte Absicht, ein Stück zu schaffen, in dem kein Wort gesprochen würde, welches nicht in den Charakteren begründet, uicht durch die Situationen gefordert wäre. Auch von seiner Emilia sollte es heißen: Man Hort es nie, aber man sieht es, welch eine bestrickende Gewalt der Prinz auf sie ausübt, sie spricht nie als unter dem Zauber seiner Persön¬ lichkeit stehend, aber sie handelt so. Der Erfolg hat gezeigt, daß Lessing über dem Bestreben eine absolute Wahr¬ heit in der Charakteristik zu erlangen, häufig die Deutlichkeit und Verständlich- keit der Darstellung eingebüßt hat. Es ist leicht einzusehen, was diesen Umstand befördert hat. Der Stoff, wie ihn die römische Erzählung in ihren Grundzügen bot und wie ihn dann Lessing auf modernem Boden frei verarbeitete, verlangte eine Construction, welche — um mit Gustav Freytag (a. a. O., S. 96) zu reden — im Gegenspiel aufsteigt. Die Heldin konnte der Natur der Sache nach nicht der „hervorstechendste," d. h. der thätigste Charakter des Stückes sein, sie konnte nnr eine passive Rolle spielen. Die Leitung der Handlung fiel damit dem Gegen¬ spiel, dem Prinzen und Marinelli zu, dem Dichter aber blieb nur wenig Ge¬ legenheit, den Charakter Emilias und die ihr selbst verborgnen Tiefen ihrer Leiden¬ schaft zu einer Deutlichkeit zu entfalten, die jedes Mißverständniß von vornherein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157697/354>, abgerufen am 16.05.2024.