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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Politische Rückblicke und Ausblicke,

diesen Interessenvertretungen zu thun? Weshalb die sittliche Entrüstung der
Liberalen darüber, daß die Konservativen ihren Parteischild mit agrarischen Un¬
wesen und Eisenzöllen beschmutzten, wenn sie selber drauf und dran sind, den
Particularismus zu schützen, wenn er nur hanseatisch ist, und die Interessen
einzelner Industriezweige zu vertreten, wenn sie nur städtische sind? Was dem
einen recht ist, ist dem andern billig. Und wenn die Freihändler ihre Statistik
haben, so holen sich die Schutzzöllner die ihrige, und dann heißt es: "Nimmst
du deine Statistik, so nehme ich meine."

Mit all dem Tadeln, Bemängeln und Aussetzen kommt man nicht von der
Stelle. Da lobe ich mir den Fortschritt, der mit bekannter Sicherheit und
selbstgenugsamer Routine immer wieder seine alten Paradepferde aus dein par¬
lamentarischen Stalle zieht, wenn es ans Reiten geht. Er spart sich die wei¬
tern Umstände, bleibt auf sicherem Unter- und Hintergrunde und hat, wie
es scheint, diese Situation bereits, wenn nicht liebgewonnen, so doch schätzen
gelernt.

Wenn die Arbeiter und andre Interessenten warten sollen, bis die Herren
Richter, Bamberger, Rickert u. s. w. oder gar die Männer der Wissenschaft, seien
es die Herren Wagner oder Brentano oder Elster, über den Werth oder Un¬
werth der Reichs- oder Staats- oder Privatversicherungen ins Klare oder gar
zu einem Einverständnisse gekommen sind, so können sie noch einige Jahrzehnte
weiter auf Hilfe warten und verderben. Derweile steht die Doctrin unantastbar,
und der Reichskanzler kann sich die "übereilten Gesetzvorlagen" sparen. Herr
Laster und Genossen würden nach wie vor die Reform im großen vermissen
und sich dem lässigen Kanzler gegenüber zum so und so dielten male in den
Mantel der sittliche" Entrüstung hüllen. Ich und viele gemäßigt Liberale, die
außerhalb des Parlaments-, Preß- und Vereinsnebels stehen, sind der Ansicht,
daß die Reichsversicherungsanstalt nebst Reichsbcitrag sobald als möglich ein¬
gerichtet und nach und nach auf alle Arbeiter ausgedehnt werden muß, weil
diese Einrichtung allein die volle Sicherheit, die größte Wohlfeilheit, die ange¬
messenste Tarifirung verbürgt. . . Wer ernstlich entschlossen ist, dem Arbeiter
M helfen, der wird ebenso die Wiedereinbringung der gescheiterten Vorlage wie
eine neue bezüglich allgemeiner Jnvaliditäts- und Altersversicherung mit Freuden
begrüßen. Der neue Reichstag wagt hoffentlich den "Sprung ins Dunkle."
Wir müssen schwimmen lernen, und dazu müssen wir ins Wasser."

Wir haben dem nur weniges hinzuzufügen. Der Reichskanzler wird mit
dem Gesetzentwürfe immer und immer wieder kommen, und er wird ihn durch
die Altersversicherung ergänzen und verbessern. Er hält ihn für ein Gebot der
Menschlichkeit und zugleich der Staatsraison, sür eine Maßregel praktischen
Christenthums und zugleich für das einzig wirksame Vorbeugungsmittel gegen¬
über der Gefahr einer socialen Revolution. Die Invaliden der Werkstatt haben
ebensogut Anspruch auf ehrenvolle Versorgung -- ehrenvolle, d. h. durch Pension,


"Ärenzbotm III. 1881. 13
Politische Rückblicke und Ausblicke,

diesen Interessenvertretungen zu thun? Weshalb die sittliche Entrüstung der
Liberalen darüber, daß die Konservativen ihren Parteischild mit agrarischen Un¬
wesen und Eisenzöllen beschmutzten, wenn sie selber drauf und dran sind, den
Particularismus zu schützen, wenn er nur hanseatisch ist, und die Interessen
einzelner Industriezweige zu vertreten, wenn sie nur städtische sind? Was dem
einen recht ist, ist dem andern billig. Und wenn die Freihändler ihre Statistik
haben, so holen sich die Schutzzöllner die ihrige, und dann heißt es: »Nimmst
du deine Statistik, so nehme ich meine.«

Mit all dem Tadeln, Bemängeln und Aussetzen kommt man nicht von der
Stelle. Da lobe ich mir den Fortschritt, der mit bekannter Sicherheit und
selbstgenugsamer Routine immer wieder seine alten Paradepferde aus dein par¬
lamentarischen Stalle zieht, wenn es ans Reiten geht. Er spart sich die wei¬
tern Umstände, bleibt auf sicherem Unter- und Hintergrunde und hat, wie
es scheint, diese Situation bereits, wenn nicht liebgewonnen, so doch schätzen
gelernt.

Wenn die Arbeiter und andre Interessenten warten sollen, bis die Herren
Richter, Bamberger, Rickert u. s. w. oder gar die Männer der Wissenschaft, seien
es die Herren Wagner oder Brentano oder Elster, über den Werth oder Un¬
werth der Reichs- oder Staats- oder Privatversicherungen ins Klare oder gar
zu einem Einverständnisse gekommen sind, so können sie noch einige Jahrzehnte
weiter auf Hilfe warten und verderben. Derweile steht die Doctrin unantastbar,
und der Reichskanzler kann sich die »übereilten Gesetzvorlagen« sparen. Herr
Laster und Genossen würden nach wie vor die Reform im großen vermissen
und sich dem lässigen Kanzler gegenüber zum so und so dielten male in den
Mantel der sittliche» Entrüstung hüllen. Ich und viele gemäßigt Liberale, die
außerhalb des Parlaments-, Preß- und Vereinsnebels stehen, sind der Ansicht,
daß die Reichsversicherungsanstalt nebst Reichsbcitrag sobald als möglich ein¬
gerichtet und nach und nach auf alle Arbeiter ausgedehnt werden muß, weil
diese Einrichtung allein die volle Sicherheit, die größte Wohlfeilheit, die ange¬
messenste Tarifirung verbürgt. . . Wer ernstlich entschlossen ist, dem Arbeiter
M helfen, der wird ebenso die Wiedereinbringung der gescheiterten Vorlage wie
eine neue bezüglich allgemeiner Jnvaliditäts- und Altersversicherung mit Freuden
begrüßen. Der neue Reichstag wagt hoffentlich den »Sprung ins Dunkle.«
Wir müssen schwimmen lernen, und dazu müssen wir ins Wasser."

Wir haben dem nur weniges hinzuzufügen. Der Reichskanzler wird mit
dem Gesetzentwürfe immer und immer wieder kommen, und er wird ihn durch
die Altersversicherung ergänzen und verbessern. Er hält ihn für ein Gebot der
Menschlichkeit und zugleich der Staatsraison, sür eine Maßregel praktischen
Christenthums und zugleich für das einzig wirksame Vorbeugungsmittel gegen¬
über der Gefahr einer socialen Revolution. Die Invaliden der Werkstatt haben
ebensogut Anspruch auf ehrenvolle Versorgung — ehrenvolle, d. h. durch Pension,


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[0103] Politische Rückblicke und Ausblicke, diesen Interessenvertretungen zu thun? Weshalb die sittliche Entrüstung der Liberalen darüber, daß die Konservativen ihren Parteischild mit agrarischen Un¬ wesen und Eisenzöllen beschmutzten, wenn sie selber drauf und dran sind, den Particularismus zu schützen, wenn er nur hanseatisch ist, und die Interessen einzelner Industriezweige zu vertreten, wenn sie nur städtische sind? Was dem einen recht ist, ist dem andern billig. Und wenn die Freihändler ihre Statistik haben, so holen sich die Schutzzöllner die ihrige, und dann heißt es: »Nimmst du deine Statistik, so nehme ich meine.« Mit all dem Tadeln, Bemängeln und Aussetzen kommt man nicht von der Stelle. Da lobe ich mir den Fortschritt, der mit bekannter Sicherheit und selbstgenugsamer Routine immer wieder seine alten Paradepferde aus dein par¬ lamentarischen Stalle zieht, wenn es ans Reiten geht. Er spart sich die wei¬ tern Umstände, bleibt auf sicherem Unter- und Hintergrunde und hat, wie es scheint, diese Situation bereits, wenn nicht liebgewonnen, so doch schätzen gelernt. Wenn die Arbeiter und andre Interessenten warten sollen, bis die Herren Richter, Bamberger, Rickert u. s. w. oder gar die Männer der Wissenschaft, seien es die Herren Wagner oder Brentano oder Elster, über den Werth oder Un¬ werth der Reichs- oder Staats- oder Privatversicherungen ins Klare oder gar zu einem Einverständnisse gekommen sind, so können sie noch einige Jahrzehnte weiter auf Hilfe warten und verderben. Derweile steht die Doctrin unantastbar, und der Reichskanzler kann sich die »übereilten Gesetzvorlagen« sparen. Herr Laster und Genossen würden nach wie vor die Reform im großen vermissen und sich dem lässigen Kanzler gegenüber zum so und so dielten male in den Mantel der sittliche» Entrüstung hüllen. Ich und viele gemäßigt Liberale, die außerhalb des Parlaments-, Preß- und Vereinsnebels stehen, sind der Ansicht, daß die Reichsversicherungsanstalt nebst Reichsbcitrag sobald als möglich ein¬ gerichtet und nach und nach auf alle Arbeiter ausgedehnt werden muß, weil diese Einrichtung allein die volle Sicherheit, die größte Wohlfeilheit, die ange¬ messenste Tarifirung verbürgt. . . Wer ernstlich entschlossen ist, dem Arbeiter M helfen, der wird ebenso die Wiedereinbringung der gescheiterten Vorlage wie eine neue bezüglich allgemeiner Jnvaliditäts- und Altersversicherung mit Freuden begrüßen. Der neue Reichstag wagt hoffentlich den »Sprung ins Dunkle.« Wir müssen schwimmen lernen, und dazu müssen wir ins Wasser." Wir haben dem nur weniges hinzuzufügen. Der Reichskanzler wird mit dem Gesetzentwürfe immer und immer wieder kommen, und er wird ihn durch die Altersversicherung ergänzen und verbessern. Er hält ihn für ein Gebot der Menschlichkeit und zugleich der Staatsraison, sür eine Maßregel praktischen Christenthums und zugleich für das einzig wirksame Vorbeugungsmittel gegen¬ über der Gefahr einer socialen Revolution. Die Invaliden der Werkstatt haben ebensogut Anspruch auf ehrenvolle Versorgung — ehrenvolle, d. h. durch Pension, «Ärenzbotm III. 1881. 13

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/103>, abgerufen am 15.05.2024.