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Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

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Sir englisches Actenstück über den deutschon Schulgesang.

hie und da auch Scenen fingen; aber daß die wichtige Erfindung der Noten
systematisch ausgenutzt wird, daß der Unterricht auf die Kenntniß der musikalischen
Elemente, auf Treffen und Zählen fnndirt wird, ist eine Ausnahme. Mit un-
verhältnißmäßiger Mühe und Noth für Lehrer und Schüler wird endlich ein
Stückchen fertig, oft ungenau, hier und da ein Ton zu hoch oder zu tief, hier
und da der Rhythmus verzerrt, und bei jedem neuen Liedchen, bei jedem weitern
Choral geht dieselbe Plagerei wieder von vorn an. Dieser Gesangunterricht ist kein
Unterrichten, es ist ein Abrichten, genau dem Verfahren entsprechend, wie man
einem Papagei oder einem Gimpel ein paar Worte, Töne oder Melodien ein¬
trichtert. Auf Wohlklang, auf vernünftige Behandlung der Stimme, mit einem
Wort auf wirkliches "Singen" zu achten, fehlt es den meisten Lehrern des Ge¬
sanges an unsern Volksschulen an Sinn. Die Knaben vollführen meist ein rohes
Geschrei, und wer zum erstenmal dabei war, wenn so eine Klasse zwölfjähriger
Buben "einen Ton angiebt," wird an diesen Moment zurückdenken wie an einen
der größten Schrecken, der sich erleben läßt; das ist ein Loslegen, bei dem man
umfallen kann, wenn man nicht vorbereitet ist. Daß unter solchen Umständen
der Gesangunterricht das Vergnügen an der Musik mehr vernichtet als ent¬
wickelt, ist zweifellos, und wenn in unserm Volke, in seinen niedern Klassen namentlich,
immer noch die Lust am Gesänge lebt, so müssen wir bekennen, daß diese That¬
sache nicht durch die Schule, sondern trotz derselben vorhanden ist. Die Aus-
unhmen in Ehren! Aber für den Durchschnitt ist die Skizze, die hier von dem
Gesangunterrichte in unsern Volksschulen gegeben worden ist, leider zutreffend,
wie alle die Musiker versichern müssen, welche sich mit der Sache näher be¬
schäftigt haben.

Zunächst muß dies der Pädagog beklagen. Denn ihm kann es nicht gleich-
giltig sein, daß in einer Zeit, wo der Unterrichtsstoff mehr und mehr wächst,
wöchentlich zwei Stunden im besten Falle verschwendet werden. Eine Zeitver¬
schwendung nämlich ist jeuer Gesangunterricht nach dem Gehör, weil -- zuge¬
geben selbst, daß die Kinder die vorgeschriebenen Choräle wirklich lernen -- sie
nach dem Austritt aus der Schule außer stände sind, selbständig etwas neues
hinzuzulernen, und weil sie das Gelernte -- oder "Eingepaukte" -- ohne jede
andre Stütze als ein blindes Gedächtniß bald wieder vollständig vergessen.

Die Schulgesangfrage geht aber auch den Musiker, deu Musikfreund und
jeden an, der ein Herz für die Bildung des Volkes hat. Denn es steht zu be¬
fürchten, daß die Musik in Deutschland dem Volke immer fremder werde, daß
wir Deutschen schließlich nichts mehr von ihr haben werden und in jeder Be¬
ziehung mit unsrer Musik andern Völkern nachstehen werden, auch solchen, auf
die wir jetzt ziemlich von oben herabsehen. Daß ein solcher Verfall der Kunst
in unserm Lande mit dem Schulgesange in Zusammenhang steht, wird vielleicht
bestritten werden. Wann je -- wird man fragen -- ist der Schulgesangsunter¬
richt besser gewesen als heute? Klagen nicht einzelne Musiker schon vor hundert


Sir englisches Actenstück über den deutschon Schulgesang.

hie und da auch Scenen fingen; aber daß die wichtige Erfindung der Noten
systematisch ausgenutzt wird, daß der Unterricht auf die Kenntniß der musikalischen
Elemente, auf Treffen und Zählen fnndirt wird, ist eine Ausnahme. Mit un-
verhältnißmäßiger Mühe und Noth für Lehrer und Schüler wird endlich ein
Stückchen fertig, oft ungenau, hier und da ein Ton zu hoch oder zu tief, hier
und da der Rhythmus verzerrt, und bei jedem neuen Liedchen, bei jedem weitern
Choral geht dieselbe Plagerei wieder von vorn an. Dieser Gesangunterricht ist kein
Unterrichten, es ist ein Abrichten, genau dem Verfahren entsprechend, wie man
einem Papagei oder einem Gimpel ein paar Worte, Töne oder Melodien ein¬
trichtert. Auf Wohlklang, auf vernünftige Behandlung der Stimme, mit einem
Wort auf wirkliches „Singen" zu achten, fehlt es den meisten Lehrern des Ge¬
sanges an unsern Volksschulen an Sinn. Die Knaben vollführen meist ein rohes
Geschrei, und wer zum erstenmal dabei war, wenn so eine Klasse zwölfjähriger
Buben „einen Ton angiebt," wird an diesen Moment zurückdenken wie an einen
der größten Schrecken, der sich erleben läßt; das ist ein Loslegen, bei dem man
umfallen kann, wenn man nicht vorbereitet ist. Daß unter solchen Umständen
der Gesangunterricht das Vergnügen an der Musik mehr vernichtet als ent¬
wickelt, ist zweifellos, und wenn in unserm Volke, in seinen niedern Klassen namentlich,
immer noch die Lust am Gesänge lebt, so müssen wir bekennen, daß diese That¬
sache nicht durch die Schule, sondern trotz derselben vorhanden ist. Die Aus-
unhmen in Ehren! Aber für den Durchschnitt ist die Skizze, die hier von dem
Gesangunterrichte in unsern Volksschulen gegeben worden ist, leider zutreffend,
wie alle die Musiker versichern müssen, welche sich mit der Sache näher be¬
schäftigt haben.

Zunächst muß dies der Pädagog beklagen. Denn ihm kann es nicht gleich-
giltig sein, daß in einer Zeit, wo der Unterrichtsstoff mehr und mehr wächst,
wöchentlich zwei Stunden im besten Falle verschwendet werden. Eine Zeitver¬
schwendung nämlich ist jeuer Gesangunterricht nach dem Gehör, weil — zuge¬
geben selbst, daß die Kinder die vorgeschriebenen Choräle wirklich lernen — sie
nach dem Austritt aus der Schule außer stände sind, selbständig etwas neues
hinzuzulernen, und weil sie das Gelernte — oder „Eingepaukte" — ohne jede
andre Stütze als ein blindes Gedächtniß bald wieder vollständig vergessen.

Die Schulgesangfrage geht aber auch den Musiker, deu Musikfreund und
jeden an, der ein Herz für die Bildung des Volkes hat. Denn es steht zu be¬
fürchten, daß die Musik in Deutschland dem Volke immer fremder werde, daß
wir Deutschen schließlich nichts mehr von ihr haben werden und in jeder Be¬
ziehung mit unsrer Musik andern Völkern nachstehen werden, auch solchen, auf
die wir jetzt ziemlich von oben herabsehen. Daß ein solcher Verfall der Kunst
in unserm Lande mit dem Schulgesange in Zusammenhang steht, wird vielleicht
bestritten werden. Wann je — wird man fragen — ist der Schulgesangsunter¬
richt besser gewesen als heute? Klagen nicht einzelne Musiker schon vor hundert


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/169>, abgerufen am 14.05.2024.