Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Kant und die Lrfcchrungswissenschaften.

Dieser letzte Umstand, die vollkommene Vergeblichkeit aller metaphysischen
Speculationen, die sich nicht auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung
beschränken, ist aber hauptsächlich dasjenige gewesen, was die deutschen Philo¬
sophen als einen empfindlichen Mangel des Kriticismus empfunden haben, und
was sie fortwährend zum Aufbauen neuer Systeme gereizt hat. Wenn Krause
in seiner Auslegung Kants Recht hat -- und jeder Leser, der tiefer in Kants
Schriften eingedrungen ist, muß sich von der Richtigkeit seines Standpunkts
überzeugen --, dann haben unsre philosophischen Lehrmeister während dieser hundert
Jahre sich niemals bemüht, das echte Gold, welches Kant mit unsäglicher Mühe
aus der Tiefe zu Tage gefördert hat, von Schlacken zu befreien und weiter zu
bearbeiten, sondern sie haben stets daneben nach neuen Schätzen gegraben und
nichts als Negenwürmer gefunden. Das absolute Ich, das Weltich, das Ab¬
solute, der absolute Geist der großen Idealisten, die raumlosen Realen Herbarts,
das Object eines speculativen Glaubens bei Fries, der transcendente Wille
Schopenhauers sind alles, wie schon Liebmann nachgewiesen hat, Modificationen
des Dinges an sich, welches Kant in sorgfältigster, nur zu sehr ins breite ge¬
zogener Polemik ein für allemal aus der Philosophie hinausgewiesen zu haben
glaubte. Fügen wir noch das Unbewußte Hartmanns und, wenn auch mit
schwerem Herzen, die einheitliche Macht Lotzes hinzu, welche die außerräumliche
Welt regiert, und uns "den Traum einer Außenwelt" verschafft, so haben wir
die hauptsächlichsten Leistungen der nachkantischen deutschen Philosophie aufge¬
zählt, die uns schließlich zu dem unerfreulichen Bilde der gegenwärtigen Lage
verhelfen, welches Paulsen in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie (im
ersten Hefte dieses Jahrgangs) im Eingange des Aufsatzes "Was uns Kant sein
kann" mit unverkennbarer Meisterschaft entworfen hat.

Die Naturwissenschaft ist während dessen, beinahe ganz ohne sich um Kant
zu bekümmern, unter dem Einfluß der englischen Empiriker ihre Wege gegangen,
hat ruhig mit leeren Räumen, Atomen, unwägbaren Materien und Hypothesen
jeder Art weiter gearbeitet, ohne nach den Principien der Möglichkeit der Er¬
fahrung zu fragen. Und so ist denn von ihnen aus das directeste Gegentheil
des Kriticismus, der Materialismus, und ein roher Empirismus in unsre wissen¬
schaftliche Bildung eingedrungen, der allmählich auf allen Gebieten jedes gesell¬
schaftlichen und staatlichen Lebens uns mit dem Kriege aller gegen alle bedroht.
Nur wenige ganz reife, harmonisch und vielseitig entwickelte Charaktere haben
innerhalb der Naturwissenschaften dem Strome der Zeit widerstanden. Als Bei¬
spiel nenne ich Goethe, den von den Fachmännern viel getadelten "Dilettanten,"
dessen wahre Bedeutung für die Naturwissenschaften noch lange nicht genug ge¬
würdigt ist, und I. R. Mayer, der unter anderen durch Berufung auf die Denk¬
gesetze die immateriellen Materien beseitigt hat. Beide sind nicht als eigentliche
Schüler Kants zu ihrem Standpunkte gekommen, wohl aber durch congeniale
Begabung bei selbständigem Forschen.


Kant und die Lrfcchrungswissenschaften.

Dieser letzte Umstand, die vollkommene Vergeblichkeit aller metaphysischen
Speculationen, die sich nicht auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung
beschränken, ist aber hauptsächlich dasjenige gewesen, was die deutschen Philo¬
sophen als einen empfindlichen Mangel des Kriticismus empfunden haben, und
was sie fortwährend zum Aufbauen neuer Systeme gereizt hat. Wenn Krause
in seiner Auslegung Kants Recht hat — und jeder Leser, der tiefer in Kants
Schriften eingedrungen ist, muß sich von der Richtigkeit seines Standpunkts
überzeugen —, dann haben unsre philosophischen Lehrmeister während dieser hundert
Jahre sich niemals bemüht, das echte Gold, welches Kant mit unsäglicher Mühe
aus der Tiefe zu Tage gefördert hat, von Schlacken zu befreien und weiter zu
bearbeiten, sondern sie haben stets daneben nach neuen Schätzen gegraben und
nichts als Negenwürmer gefunden. Das absolute Ich, das Weltich, das Ab¬
solute, der absolute Geist der großen Idealisten, die raumlosen Realen Herbarts,
das Object eines speculativen Glaubens bei Fries, der transcendente Wille
Schopenhauers sind alles, wie schon Liebmann nachgewiesen hat, Modificationen
des Dinges an sich, welches Kant in sorgfältigster, nur zu sehr ins breite ge¬
zogener Polemik ein für allemal aus der Philosophie hinausgewiesen zu haben
glaubte. Fügen wir noch das Unbewußte Hartmanns und, wenn auch mit
schwerem Herzen, die einheitliche Macht Lotzes hinzu, welche die außerräumliche
Welt regiert, und uns „den Traum einer Außenwelt" verschafft, so haben wir
die hauptsächlichsten Leistungen der nachkantischen deutschen Philosophie aufge¬
zählt, die uns schließlich zu dem unerfreulichen Bilde der gegenwärtigen Lage
verhelfen, welches Paulsen in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie (im
ersten Hefte dieses Jahrgangs) im Eingange des Aufsatzes „Was uns Kant sein
kann" mit unverkennbarer Meisterschaft entworfen hat.

Die Naturwissenschaft ist während dessen, beinahe ganz ohne sich um Kant
zu bekümmern, unter dem Einfluß der englischen Empiriker ihre Wege gegangen,
hat ruhig mit leeren Räumen, Atomen, unwägbaren Materien und Hypothesen
jeder Art weiter gearbeitet, ohne nach den Principien der Möglichkeit der Er¬
fahrung zu fragen. Und so ist denn von ihnen aus das directeste Gegentheil
des Kriticismus, der Materialismus, und ein roher Empirismus in unsre wissen¬
schaftliche Bildung eingedrungen, der allmählich auf allen Gebieten jedes gesell¬
schaftlichen und staatlichen Lebens uns mit dem Kriege aller gegen alle bedroht.
Nur wenige ganz reife, harmonisch und vielseitig entwickelte Charaktere haben
innerhalb der Naturwissenschaften dem Strome der Zeit widerstanden. Als Bei¬
spiel nenne ich Goethe, den von den Fachmännern viel getadelten „Dilettanten,"
dessen wahre Bedeutung für die Naturwissenschaften noch lange nicht genug ge¬
würdigt ist, und I. R. Mayer, der unter anderen durch Berufung auf die Denk¬
gesetze die immateriellen Materien beseitigt hat. Beide sind nicht als eigentliche
Schüler Kants zu ihrem Standpunkte gekommen, wohl aber durch congeniale
Begabung bei selbständigem Forschen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0241" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/150963"/>
          <fw type="header" place="top"> Kant und die Lrfcchrungswissenschaften.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_791"> Dieser letzte Umstand, die vollkommene Vergeblichkeit aller metaphysischen<lb/>
Speculationen, die sich nicht auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung<lb/>
beschränken, ist aber hauptsächlich dasjenige gewesen, was die deutschen Philo¬<lb/>
sophen als einen empfindlichen Mangel des Kriticismus empfunden haben, und<lb/>
was sie fortwährend zum Aufbauen neuer Systeme gereizt hat. Wenn Krause<lb/>
in seiner Auslegung Kants Recht hat &#x2014; und jeder Leser, der tiefer in Kants<lb/>
Schriften eingedrungen ist, muß sich von der Richtigkeit seines Standpunkts<lb/>
überzeugen &#x2014;, dann haben unsre philosophischen Lehrmeister während dieser hundert<lb/>
Jahre sich niemals bemüht, das echte Gold, welches Kant mit unsäglicher Mühe<lb/>
aus der Tiefe zu Tage gefördert hat, von Schlacken zu befreien und weiter zu<lb/>
bearbeiten, sondern sie haben stets daneben nach neuen Schätzen gegraben und<lb/>
nichts als Negenwürmer gefunden. Das absolute Ich, das Weltich, das Ab¬<lb/>
solute, der absolute Geist der großen Idealisten, die raumlosen Realen Herbarts,<lb/>
das Object eines speculativen Glaubens bei Fries, der transcendente Wille<lb/>
Schopenhauers sind alles, wie schon Liebmann nachgewiesen hat, Modificationen<lb/>
des Dinges an sich, welches Kant in sorgfältigster, nur zu sehr ins breite ge¬<lb/>
zogener Polemik ein für allemal aus der Philosophie hinausgewiesen zu haben<lb/>
glaubte. Fügen wir noch das Unbewußte Hartmanns und, wenn auch mit<lb/>
schwerem Herzen, die einheitliche Macht Lotzes hinzu, welche die außerräumliche<lb/>
Welt regiert, und uns &#x201E;den Traum einer Außenwelt" verschafft, so haben wir<lb/>
die hauptsächlichsten Leistungen der nachkantischen deutschen Philosophie aufge¬<lb/>
zählt, die uns schließlich zu dem unerfreulichen Bilde der gegenwärtigen Lage<lb/>
verhelfen, welches Paulsen in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie (im<lb/>
ersten Hefte dieses Jahrgangs) im Eingange des Aufsatzes &#x201E;Was uns Kant sein<lb/>
kann" mit unverkennbarer Meisterschaft entworfen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_792"> Die Naturwissenschaft ist während dessen, beinahe ganz ohne sich um Kant<lb/>
zu bekümmern, unter dem Einfluß der englischen Empiriker ihre Wege gegangen,<lb/>
hat ruhig mit leeren Räumen, Atomen, unwägbaren Materien und Hypothesen<lb/>
jeder Art weiter gearbeitet, ohne nach den Principien der Möglichkeit der Er¬<lb/>
fahrung zu fragen. Und so ist denn von ihnen aus das directeste Gegentheil<lb/>
des Kriticismus, der Materialismus, und ein roher Empirismus in unsre wissen¬<lb/>
schaftliche Bildung eingedrungen, der allmählich auf allen Gebieten jedes gesell¬<lb/>
schaftlichen und staatlichen Lebens uns mit dem Kriege aller gegen alle bedroht.<lb/>
Nur wenige ganz reife, harmonisch und vielseitig entwickelte Charaktere haben<lb/>
innerhalb der Naturwissenschaften dem Strome der Zeit widerstanden. Als Bei¬<lb/>
spiel nenne ich Goethe, den von den Fachmännern viel getadelten &#x201E;Dilettanten,"<lb/>
dessen wahre Bedeutung für die Naturwissenschaften noch lange nicht genug ge¬<lb/>
würdigt ist, und I. R. Mayer, der unter anderen durch Berufung auf die Denk¬<lb/>
gesetze die immateriellen Materien beseitigt hat. Beide sind nicht als eigentliche<lb/>
Schüler Kants zu ihrem Standpunkte gekommen, wohl aber durch congeniale<lb/>
Begabung bei selbständigem Forschen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0241] Kant und die Lrfcchrungswissenschaften. Dieser letzte Umstand, die vollkommene Vergeblichkeit aller metaphysischen Speculationen, die sich nicht auf die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung beschränken, ist aber hauptsächlich dasjenige gewesen, was die deutschen Philo¬ sophen als einen empfindlichen Mangel des Kriticismus empfunden haben, und was sie fortwährend zum Aufbauen neuer Systeme gereizt hat. Wenn Krause in seiner Auslegung Kants Recht hat — und jeder Leser, der tiefer in Kants Schriften eingedrungen ist, muß sich von der Richtigkeit seines Standpunkts überzeugen —, dann haben unsre philosophischen Lehrmeister während dieser hundert Jahre sich niemals bemüht, das echte Gold, welches Kant mit unsäglicher Mühe aus der Tiefe zu Tage gefördert hat, von Schlacken zu befreien und weiter zu bearbeiten, sondern sie haben stets daneben nach neuen Schätzen gegraben und nichts als Negenwürmer gefunden. Das absolute Ich, das Weltich, das Ab¬ solute, der absolute Geist der großen Idealisten, die raumlosen Realen Herbarts, das Object eines speculativen Glaubens bei Fries, der transcendente Wille Schopenhauers sind alles, wie schon Liebmann nachgewiesen hat, Modificationen des Dinges an sich, welches Kant in sorgfältigster, nur zu sehr ins breite ge¬ zogener Polemik ein für allemal aus der Philosophie hinausgewiesen zu haben glaubte. Fügen wir noch das Unbewußte Hartmanns und, wenn auch mit schwerem Herzen, die einheitliche Macht Lotzes hinzu, welche die außerräumliche Welt regiert, und uns „den Traum einer Außenwelt" verschafft, so haben wir die hauptsächlichsten Leistungen der nachkantischen deutschen Philosophie aufge¬ zählt, die uns schließlich zu dem unerfreulichen Bilde der gegenwärtigen Lage verhelfen, welches Paulsen in der Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie (im ersten Hefte dieses Jahrgangs) im Eingange des Aufsatzes „Was uns Kant sein kann" mit unverkennbarer Meisterschaft entworfen hat. Die Naturwissenschaft ist während dessen, beinahe ganz ohne sich um Kant zu bekümmern, unter dem Einfluß der englischen Empiriker ihre Wege gegangen, hat ruhig mit leeren Räumen, Atomen, unwägbaren Materien und Hypothesen jeder Art weiter gearbeitet, ohne nach den Principien der Möglichkeit der Er¬ fahrung zu fragen. Und so ist denn von ihnen aus das directeste Gegentheil des Kriticismus, der Materialismus, und ein roher Empirismus in unsre wissen¬ schaftliche Bildung eingedrungen, der allmählich auf allen Gebieten jedes gesell¬ schaftlichen und staatlichen Lebens uns mit dem Kriege aller gegen alle bedroht. Nur wenige ganz reife, harmonisch und vielseitig entwickelte Charaktere haben innerhalb der Naturwissenschaften dem Strome der Zeit widerstanden. Als Bei¬ spiel nenne ich Goethe, den von den Fachmännern viel getadelten „Dilettanten," dessen wahre Bedeutung für die Naturwissenschaften noch lange nicht genug ge¬ würdigt ist, und I. R. Mayer, der unter anderen durch Berufung auf die Denk¬ gesetze die immateriellen Materien beseitigt hat. Beide sind nicht als eigentliche Schüler Kants zu ihrem Standpunkte gekommen, wohl aber durch congeniale Begabung bei selbständigem Forschen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/241
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 40, 1881, Viertes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341833_157970/241>, abgerufen am 15.05.2024.